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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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und dann getreten und bedroht.«
    »Was genau haben Sie gesagt?«
    »Nehmen Sie die anorektische Schlampe, und fahren Sie nach München zurück!«
    »Verdammte Schweine«, sagte Anna und funkelte mich aus tränennassen Augen an, »ich bin nicht anorektisch!«
    »Es hat überhaupt nur einer gesprochen. Er hatte medizinische Kenntnisse und hat sich irgendwie darin gefallen, mich das wissen zu lassen. Ausdrücke wie Zungengrund, Hinterhauptsloch, anorektisch. Was soll das? Der mit der Pistole hinter mir hat gar nichts gesagt.«
    »Hast du sie gesehen?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben mir eine Branddecke über den Kopf gezogen. Davon gab es Dutzende in dem Verschlag. Das Zeug ist so dicht, dass mir sofort die Luft ausging. Kein Wunder, dass man damit Feuer ersticken kann.«
    »Offenbar nicht nur Feuer«, sagte Anna düster.
    Ich zuckte mit den Achseln. In meinem Unterleib wütete noch immer ein dumpfer Schmerz, der jedes Mal aufloderte, wenn ich mich bewegte. Mein rechtes Augenlid hatte angefangen, unkontrollierbar zu flattern.
    »Ich muss mich hinlegen.«
    Anna machte Platz und hockte sich im Schneidersitz vor das Bett, während ich meine Beine hochwuchtete und die Matratze der Koje über mir anstarrte. Nach einer Weile hielt sie das Schweigen nicht mehr aus.
    »Und jetzt?«
    »Wir geben auf. Er hat damit geprahlt, was sie mit uns anstellen können. Viehisches Zeug, ich will das nicht wiederholen. Aber es war ernst gemeint. Sie haben klargemacht, dass sie uns jederzeit und an jedem Ort erwischen können. Egal, ob auf dem Bahnhofsklo oder auf einer skandinavischen Fähre. Wir haben keine Chance. Wenn wir in Ventspils ankommen, fahren wir mit dem Bus nach Riga und nehmen das nächste Flugzeug zurück nach Hamburg.«
    Anna schwieg. Sie saß einfach da, den Kopf in den Händen und die Augen geschlossen.
    »Nein!«, sagte sie schließlich. »Ich steige in kein Flugzeug, und ich werde nicht aufhören. Helen war der einzige Mensch, der mir etwas bedeutet hat, und wenn ich ihren Tod einfach abhake, kann ich mich auch gleich in die Geschlossene einweisen lassen. Ich war mal in einem besetzten Haus, das die Bullen geräumt haben. Als die Hundertschaft anrückte, hatten wir jede Menge Zeit, uns zu verdrücken, aber keiner ist gegangen. Sie haben mit den Stöcken rhythmisch auf ihre Schilde geschlagen, und ich hätte mir um ein Haar in die Hosen gepisst, aber ich bin nicht abgehauen. Wir hatten uns Motorradhelme aufgesetzt, als sie das Haus schließlich stürmten, und das hat sie erst richtig wütend gemacht. Auf der Fahrt ins Revier haben sie uns in den Mannschaftswagen die Helme runtergerissen, uns auf die Köpfe gehauen und dann die Helme wieder draufgesetzt. Wir durften sie auch in der Arrestzelle nicht absetzen, bis wir nach Stunden einzeln verhört wurden. Kannst du dir vorstellen, wie sich ein aus fünf Platzwunden blutender Kopf in einem Integralhelm anfühlt?«
    »Warum erzählst du mir das?«
    »Weil es mir nicht leid tut. Vielleicht war es dumm, nicht abzuhauen, aber es war richtig!«
    Anna wartete auf eine Antwort, aber ich hatte genug. Ich drehte mein Gesicht zur Wand und sagte kein Wort mehr. In meinem Kopf war die Stimme des Mannes vom Oberdeck, die Aura von Arroganz und absoluter Macht, die Stimme eines Mannes, der sicher ist, dass er alles tun kann, was er will. Nach einer Weile hörte ich, wie unsere Kabinentür leise aufgeschlossen wurde. Anna beugte sich über mich, und ich spürte ihren warmen Atem an meinem Ohr.
    »Ich hab uns noch was organisiert«, sagte sie. »Der Dutyfree-Shop war noch auf!«
    Ich hatte nicht mal realisiert, dass sie weg gewesen war, aber ich war tatsächlich hungrig. Anna hatte zwei Flaschen passablen Rioja bekommen und die Reste der Sandwichtheke aufgekauft.
    Wir tranken den Wein aus der Flasche und schlangen die angematschten Baguettebrötchen hinunter wie zwei Bulimiekranke bei der nächtlichen Kühlschrankvisite. Anna muss irgendwie die gleiche Assoziation gehabt haben wie ich, denn sie schnaubte verächtlich: »Von wegen anorektisch«, und leckte sich genüsslich die Camembertreste von den Fingern.
    Das Essen hatte mir gutgetan, und als wir mit Annas Taschenmesser die zweite Flasche Wein aufhebelten, lief mein Verstand schon wieder einigermaßen rund.
    »Warum hat er so geredet?«, fragte Anna. »So hochgestochen medizinisch, ich meine, er muss doch wissen, dass er damit etwas über sich verrät!«
    Ich musste an das Gespräch mit Professor Bärwald denken. »Sie suchen einen

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