Oelspur
kalte Wut verwandelten. Auf dem Schiff, das war ein heimlicher und hinterhältiger Angriff gewesen. Bei Dunkelheit und sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Uns am helllichten Tag mit dem Auto nach Ostgals zu folgen, praktisch vor dem Haus zu parken und auf uns zu warten war eine ganz andere Sache. Warum uns nicht gleich auf offener Straße in die Beine schießen? Ja, sagte Helen mit einem Anflug von Traurigkeit, das ist das, was sie dir mitteilen wollten.
Elena ließ uns vor dem Agenturbüro der Fährlinie in der Plostu iela aussteigen.
»Tut mir leid, dass ich etwas unfreundlich war«, sagte sie, »aber Sergej und ich haben so viele Probleme – es darf einfach nichts mehr dazukommen. Außer mir ist niemand da, der sich um ihn kümmert. Sie wollen ihm seine Rente nicht in voller Höhe auszahlen, nur weil er Russe ist, und mein Job reicht gerade für mich.«
Sie zuckte hilflos mit den Achseln. Dann nahm sie Anna spontan in den Arm und schüttelte mir zum Abschied die Hand.
»Ich hoffe, dass Sie herausfinden, was Sie wissen wollen«, sagte sie, »und passen Sie auf sich auf.«
»Machen wir«, sagte Anna, »und … was ich noch sagen wollte: Sie sprechen wirklich fantastisch Deutsch!«
»Danke«, sagte Elena, »Sie aber auch!«
Sie wartete, bis die Ironie bei Anna angekommen war, lächelte und schenkte mir einen intensiven Blick aus meergrünen Augen. Dann war sie weg.
Anna grinste vielsagend und gab ein ordinäres Schnalzen von sich.
»Schöne Frau«, sagte sie, »und wie geht’s jetzt weiter?«
»Wir fahren nicht nach Hamburg zurück!«
»Sondern?«
»Nach Schweden, genauer gesagt: zunächst mit der Fähre nach Nynäshamn.«
»Willst du deine Eltern besuchen?«
»Ja, das auch. Aber vielleicht haben wir dort eine Chance, sie abzuschütteln. Schließlich rechnen sie ja nicht damit. In Schweden kenne ich mich aus, und ich spreche fließend Schwedisch. Die vielleicht nicht. Vielleicht haben wir so einmal einen Vorteil auf unserer Seite.«
»Okay«, sagte Anna, »werden wir Elche sehen?«
»Nicht, wenn ich es vermeiden kann!«
Wir betraten die Agentur und hatten Glück. Es dauerte zwar fast zehn Minuten, bis eine magere, übellaunige Aushilfskraft ihrem Computer die nötigen Informationen entlockt hatte, aber dann sagte sie in einem kehligen Englisch:
»Wenn Sie kein Auto dabeihaben, können Sie heute Abend die Nachtfähre nehmen. Abfahrt von Ventspils um 22 Uhr, Ankunft Nynäshamn ungefähr 9 Uhr morgens. Zwei Tickets, eine Kabine?«
»Nehmen wir«, sagte Anna und zu mir gewandt auf Deutsch: »Vielleicht müssen unsere Freunde ihr Auto jetzt hierlassen, wenn sie uns folgen wollen.«
Ich nickte. Ein schöner Gedanke, der auch mir gerade durch den Kopf geschossen war. Andererseits war der schwarze Audi unser einziger Anhaltspunkt, denn die Insassen hatten wir ja noch nie zu Gesicht bekommen. Als wir auf die Straße traten, sahen wir uns vorsichtig nach allen Seiten um, aber es gab absolut nichts Verdächtiges zu sehen. Überall nur gut gelaunte Touristen, die an einem schönen Sonntagnachmittag durch eine nette kleine Stadt schlenderten. Wir hielten ein Taxi an und ließen uns zum Hotel Vilnis zurückfahren. Dort baten wir den Fahrer zu warten, packten unsere Sachen zusammen und waren in fünfzehn Minuten ausgecheckt.
Weil noch jede Menge Zeit bis zum Ablegen der Fähre war, machten wir auf Annas Wunsch mit dem Taxi eine kleine Stadtrundfahrt. Da wir schon mal auf der Talsu iela waren, fuhren wir zunächst an dem riesigen Areal der Ventspils nafta AG vorbei, deren runde Container wie gigantische metallene Keksdosen in der Sonne schimmerten, und waren gebührend beeindruckt.
»Der größte Erdöl- und Erdölprodukte-Terminal an der Ostsee! Gesamtspeicherkapazität eine Million Kubikmeter«, sagte Anna. »Mit denen haben sich die lettischen Umweltschützer auch angelegt!«
Sie konnte ihren Reiseführer einfach nicht in der Tasche lassen. Dann wendete der Fahrer, und über den Hafenkanal fuhren wir zurück in die Innenstadt. Von der Ostas iela aus hatte man einen guten Blick über den Kanal auf das Gelände der Kalija parks AG, des weltweit größten Umschlagunternehmens von Kaliumsalz. Die Anlage machte selbst im milden Licht der Nachmittagssonne einen monströs futuristischen Eindruck.
»Das Ganze wird bei Dunkelheit auf spezielle Weise angestrahlt«, las Anna aus ihrem Touristenführer vor. »Illuminiert, wie es hier so schön heißt.«
Den wunderbaren Anblick konnte ich mir lebhaft
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