Oelspur
es war schön, Sie kennenzulernen!«
Gunnars Gesicht hatte einen Ausdruck von freundlicher Leere angenommen. Er lächelte unsicher und verschwand.
Meine Mutter fluchte leise auf Bayerisch vor sich hin, während sie begann, die Forellen zu filetieren. Wir aßen eine Weile schweigend, bis Ruth schließlich ihren Teller zurückschob und Anna und mich durchdringend ansah.
»Wer von euch beiden möchte anfangen, mir zu erzählen, was passiert ist?«
Ich fühlte mich wieder wie zehn. Als kleiner Junge hatte ich meine Mutter mit ödipaler Inbrunst geliebt, aber ich hatte ihr nie gerne etwas erzählt. Ihr freundliches, aber einfach zu intensives Interesse an allem, was ich tat – »Komm, Tommy, setz dich, und erzähl von diesem Mädchen« –, war mir immer wie das bohrende Nachhaken einer gewieften Verhörspezialistin erschienen. Und dann der Blick dazu. Sie hatte nicht viel verlernt.
Anna räusperte sich aufmunternd. Also genehmigte ich mir eine homöopathische Dosis von dem Aquavit und gab meiner Mutter einen leicht zensierten Bericht der Vorkommnisse seit Helens Tod. Ich spielte die Ereignisse auf dem Bahnhofsklo und der Fähre so weit wie möglich herunter, aber es war immer noch erheblich mehr, als Ruth verkraften konnte. Sie war verängstigt und wütend zugleich, die Tränen liefen ihr über das Gesicht, und ich wusste exakt, was sie sagen würde:
»Wie konntest du dich auf so etwas einlassen?«
Ja, warum? Mehr als einmal hatte ich mir diese Frage in den vergangenen Tagen gestellt.
Weil ein Mensch, den ich geliebt hatte, auf hinterhältige Weise getötet worden war? Ebenso wie Ulf Jaeggi und wahrscheinlich Krisjanis Udris? Weil man mich zusammengeschlagen und eingeschüchtert hatte und auch die Schwester meiner Freundin bedrohte? Weil ich meine Augen nicht verschließen wollte vor der gigantischen Schweinerei, die da passiert war? Oder weil Anna mir so zugesetzt hatte?
Gute Gründe.
Ich hatte sie mir vorgebetet in den letzten Nächten, wenn ich mich von einer Seite auf die andere wälzte und mich fragte, was ich hier eigentlich tat. Und warum.
In der Nacht auf der Fähre von Ventspils nach Nynäshamn war ich der Sache näher gekommen. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich hatte mir etwas eingestanden, was ich schon die ganze Zeit wusste.
Ich war krank vor Hass.
Nach meinem Gespräch mit Professor Bärwald hatte sich eine Folge von Bildern in mein Gehirn eingegraben, die wie der schnell geschnittene Trailer eines Hollywoodfilms abliefen.
Helen liegt auf der polierten Holzbank der Saunakabine und kann weder schreien noch sich bewegen. Undeutlich und wie in Zeitlupe sieht sie den Mann über sich. Er hat sie entkleidet. Vorsichtig, beinahe behutsam. Nicht aus Rücksichtnahme, sondern um keine Spuren zu hinterlassen, und die Latexhandschuhe haben die Berührung durch seine Hände beinahe noch ekelhafter gemacht. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie er anfängt sich selbst auszuziehen, und ihr Herz beginnt zu rasen. Aber dann breitet er ein Badehandtuch über ihr aus, fühlt ihren Puls und setzt die Sauna in Gang. Im Wegdämmern begreift ihr Verstand, was er da tut. Ihre letzte Hoffnung schwindet. Falls jemand versehentlich die Tür öffnen sollte, wird er das sehen, was zu erwarten ist: ein nacktes Pärchen in der Sauna. Der Mörder hat alle Zeit der Welt. Nach etwa drei Stunden zieht er eine Kanüle mit einer klaren Flüssigkeit auf und kleidet sich wieder an. Und dann, mit ruhiger, professioneller Präzision, sucht er die richtige Stelle in ihrer Armbeuge …
Irgendwie folgerichtig, so kam es mir vor, war mein Kopf wenig später in der Kloschüssel einer Bahnhofstoilette gelandet, und alles zusammengenommen war einfach mehr, als ich ertragen konnte. Das leise, zufriedene Lachen des Mannes hinter mir, als er die Toilettentür schloss, klang in meinem Kopf. Ich spürte den Geschmack von Pisse in meinem Mund, die hemmungslose Gewalt, mit der mein Kopf nach unten gedrückt wurde, und den furchtbaren Schmerz in meiner Schulter.
Maximale Demütigung als kalkulierte Maßnahme. Die Erfahrung vollkommener Hilflosigkeit. Das war der Zweck der Aktion gewesen, und es hatte funktioniert. Maximale Demütigung erzeugte maximalen Hass.
Ich hatte mich an das fassungslose Gesicht des Albaners erinnert, als er sah, wie das Leben aus ihm herauslief. Es war eine fabelhafte Erinnerung.
Gleichzeitig hatte ich darüber nachgegrübelt, wie weit ich entfernt war von dem, was er war, und was uns noch unterschied. Ein Unterschied
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