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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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nicht da ist!«
    »Hallo, Gunnar«, sagte ich, »mach bei uns eine Ausnahme!«
    Ich trat einen Schritt näher heran ins Licht, aber es war keine Frage der Sichtverhältnisse.
    »Warum? Ich kenne Sie ja gar nicht«, sagte er.
    »Doch!«, sagte ich jetzt auf Deutsch. »Du kennst mich seit etwa vierzig Jahren. Und soweit ich weiß, bin ich dein einziger Sohn!«
    Der Wechsel ins Deutsche schien eine Art Erinnerungsfunken in seinem Gehirn zu zünden. Sein Gesicht nahm einen verwirrten und ungläubigen Ausdruck an.
    »Thomas?«
    Jetzt erst schien er auch Anna wahrzunehmen. Sein Blick wanderte von ihr zu mir zurück.
    »Wo ist die andere Frau geblieben?«
    »Sie kommt nicht mehr«, sagte Anna und schob sich etwas nach vorne, »aber ich bin jetzt da. Würden Sie uns reinlassen? Es ist sehr kalt hier.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Gunnar, »wenn ich Sie reinlasse und er ist nicht Thomas, wird Ruth sehr wütend sein.«
    »Ich schwöre, dass er es ist«, sagte Anna feierlich.
    Gunnars Miene schien sich aufzuhellen. Er hatte mich nicht erkannt, aber aus irgendeinem verrückten Grund war er bereit, Anna zu glauben, dass ich sein Sohn war.
    »Gut!«, sagte er und trat zur Seite. »Aber ihr sprecht mit Ruth.«
    »Los, rein«, sagte Anna leise, »bevor er es sich anders überlegt.«
    Aber das tat er nicht. Er ging voran ins Wohnzimmer, stellte die Musik wieder lauter und setzte sich in einen abgewetzten Ohrensessel. Dann schloss er die Augen und vergaß uns.
    Ein halbe Stunde später kam meine Mutter nach Hause. Sie weinte, als sie uns sah, umarmte Anna und mich und war nur schwer zu beruhigen.
    »Großer Gott, warum habt ihr nicht angerufen. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr kommt … Ich hab überhaupt nichts im Haus, und Gunnar … verdammt, wie kann er schlafen, wenn sein Sohn nach Hause kommt!«
    Gunnar war tatsächlich eingenickt. Ruth stand wütend hinter seinem Sessel und hatte wieder Tränen in den Augen. Anna ging rasch zu ihr und legte einen Arm um ihre Schulter.
    »Lassen Sie ihn«, sagte sie sanft, »er hat Thomas nicht erkannt. Wir müssen einiges besprechen und haben nicht viel Zeit. Vielleicht ist es ganz gut, dass er schläft.«
    Ruth schluchzte und sah immer noch so aus, als hätte sie am liebsten gegen Gunnars Sessel getreten, aber dann siegte – wie immer – ihr praktischer Verstand.
    »Kommen Sie mit in die Küche, und helfen Sie mir«, sagte sie zu Anna, »und anschließend will ich wissen, was los ist!«
    Ich setzte mich Gunnar gegenüber in einen Sessel, lehnte mich erschöpft zurück und schloss die Augen. Ruth und Anna sprachen in der Küche miteinander, aber ich verstand nicht, was sie sagten. Anna lachte laut und herzlich auf, und meine Mutter stimmte in das Lachen ein. Ich öffnete die Augen und sah, dass Gunnar mich anstarrte. Sein Gesicht hatte einen merkwürdig verschwörerischen Ausdruck angenommen, so als hätte er mich bei einer netten kleinen Gaunerei ertappt. Er grinste spitzbübisch.
    »Wo ist die andere Frau geblieben?«
    »Sie ist tot.«
    »Und jetzt hast du die da?«, er deutete mit dem Kopf in Richtung Küche.
    »Wir sind nur Freunde.«
    »Ich habe deine Mutter nie betrogen!«
    »Ich betrüge Helen nicht. Sie ist tot.«
    »Deine Mutter hätte mir die Hölle heißgemacht, wenn ich sie betrogen hätte!«
    Ich zuckte mit den Achseln. Bevor ich am Max-Planck-Institut anfing, hatte ich als Therapeut Hunderte von Gesprächen mit hirnorganisch veränderten Patienten geführt, ohne jemals die Geduld zu verlieren. Nach sieben Sätzen mit meinem Vater hatte ich im Kopf das Geräusch einer Kreissäge, die mein Gehirn in feine Streifen zerlegte. Ich stand auf und stellte die Musik ab. Es war das Joe-Cocker-Album, das ich ihm zu Weihnachten geschickt hatte. Gunnar hatte es zu Ruths Verzweiflung seitdem jeden Tag gespielt. In meinem Rücken hörte ich seine Stimme.
    »Willst du mir nicht sagen, wer Helen ist?«
    Ruth und Anna kamen mit dem Essen herein, und ich atmete langsam tief durch.
    Dafür, dass meine Mutter gar nichts im Haus hatte, gab es eine Menge leckerer Sachen. Aromatisch nach Kümmel duftendes Brot, gesalzene Butter, frisch geräucherte Forellen, Rentierschinken, jede Menge Käse und dazu dänischen Aquavit und Paulaner Weizenbier, das sie weiß der Teufel woher hatte.
    Als der Tisch gedeckt war, stand Gunnar aus seinem Sessel auf.
    »Ich gehe schlafen«, sagte er.
    Anna legte beschwichtigend ihre Hand auf Ruths Arm und sagte, bevor meine Mutter explodieren konnte:
    »Gute Nacht, Gunnar,

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