Oelspur
vorstellen.
Gegen 20 Uhr waren wir pünktlich am Hafen, um die Formalitäten zu erledigen. Anna musterte die Leute in der Schlange hinter uns so penetrant, dass zwei betrunkene Schweden auf sie aufmerksam wurden und ihr ein Angebot für die Nacht unterbreiteten, das sie gottlob nicht verstand. Demonstrativ hochnäsig hakte sie sich bei mir ein, und gemeinsam gingen wir auf das Schiff. Wir verstauten unser Gepäck in der Kabine und bekamen, nachdem die Fähre abgelegt hatte, noch einen guten Tisch im Bordrestaurant. Mir lag die Sauerkrautplatte von der Ordensburg noch im Magen, aber Anna bestellte Räucherlachs auf Toast mit Meerrettichsahne, gebackene Schollenfilets mit Bratkartoffeln und zwei Flaschen Tuborg und verzehrte alles mit der üblichen zielstrebigen Geschwindigkeit.
»Ich begreife nicht, wie du derartig viel essen kannst«, sagte ich.
»Na ja, nach Helen bist du der einzige Mensch aus meinem Bekanntenkreis, der eine Kreditkarte hat. So was muss man auskosten. Wenn sich unsere Wege trennen, lande ich wieder bei Ravioli.«
Sie wartete ab, wie ich diese Eröffnung aufnehmen würde, und zwinkerte mir dann fröhlich zu. Ich war froh, dass sich ihre Stimmung gebessert hatte, obwohl wir auf dieser Reise kein Stück weitergekommen waren.
»Wo genau leben deine Eltern?«
»In Växjö. Eine kleine Universitätsstadt in Småland. Knapp achtzigtausend Einwohner, auch bei Touristen sehr beliebt.«
»Wie lange müssen wir fahren?«
»Von Nynäshamn kommt man nicht gut weiter. Wir fahren zunächst von da nach Stockholm, das sind etwa sechzig Kilometer. Von Stockholm auf die Autobahn Richtung Süden über Norrköping, Jönköping und irgendwann scharf links nach Växjö. Also etwa fünf bis sechs Stunden, je nachdem, was für ein Auto wir bekommen.«
Anna nickte.
»Haben deine Eltern Helen gemocht?«
»Ja«, sagte ich, »vor allem mein Vater.«
Vierundzwanzig
D
ie Überfahrt nach Schweden verlief ohne Zwischenfälle.
Wir verbrachten eine ungestörte Nacht in einer ruhigen Kabine und fanden in Nynäshamn problemlos ein Taxi nach Stockholm. Dort mieteten wir einen netten kleinen Golf und waren am späten Vormittag auf der Autobahn Richtung Süden.
Anna schwieg die meiste Zeit, starrte aus dem Fenster in den Regen und knabberte an ihren Fingernägeln. Ich widerstand der Versuchung, den Golf auszufahren, und hielt mich eisern an das schwedische Tempolimit. Mein Vater hatte es geliebt, in Deutschland Auto zu fahren, und wenn er seinen behäbigen Volvo nach einer geschlagenen Minute endlich auf 170 Stundenkilometer hatte, kam er sich vor wie Mika Häkkinen.
Hin und wieder hielt ich Ausschau nach schwarzen Audis mit getönten Scheiben, aber die Autobahn war leer, und ich war sicher, dass uns niemand folgte.
Es war bereits dämmerig, als wir in die kleine Straße am Ortsausgang von Växjö einbogen, an der das Haus meiner Eltern lag. Ich parkte den Mietwagen etwa hundert Meter entfernt vom Haus und weckte Anna. Sie hatte ab Jönköping fast während der gesamten Fahrt auf dem Rücksitz geschlafen und war benommen und schlecht gelaunt.
»Scheißkalt hier«, sagte sie.
Damit hatte sie recht. Ich hatte fast vergessen, wie kalt selbst Südschweden im April sein kann. Wortlos gingen wir auf das Haus zu. Es war ein gemütliches, typisch skandinavisches Holzhaus, das mein Vater eigenhändig in den schwedischen Nationalfarben gestrichen hat, als sein Verstand noch klar war. Meine Mutter bezweifelte dies energisch, als sie den Anstrich sah, aber er bestand darauf. Dreißig Jahre bayerisches Exil hatten seinen Patriotismus auf Touren gebracht.
In allen Fenstern brannte bereits Licht und verbreitete eine Aura von Wärme und Sicherheit wie in einem gut gemachten Werbefilm für Bausparverträge.
Als wir näher kamen, hörten wir Musik. Joe Cocker sang: »You are so beautiful …«, und ich wusste, dass mein Vater zu Hause war. Ich drückte auf die Klingel, die Musik wurde leiser gestellt, und dann öffnete er die Tür. Er sah absolut wunderbar aus.
Sein volles, schneeweißes Haar war frisch gewaschen und sorgfältig gescheitelt. Er trug braune Kordhosen, ein kariertes Flanellhemd und eine Strickjacke mit Hirschhornknöpfen, und auf seiner Nase saß die alte Goldrandbrille, die er seit meiner frühen Kindheit besaß. Seine hagere Gestalt wirkte gebeugt, aber seine Augen hinter den dicken Brillengläsern zwinkerten fröhlich.
»Tut mir leid«, sagte er auf Schwedisch, »ich darf niemanden reinlassen, wenn meine Frau
Weitere Kostenlose Bücher