Oelspur
im Wesen oder nur im Stadium?
Egal.
Anna hatte recht gehabt. Wir würden sie nicht davonkommen lassen.
»Warum antwortest du nicht?«, fragte meine Mutter.
»Er hat sich auf gar nichts eingelassen«, sagte Anna jetzt an meiner Stelle. Ihre Stimme war deutlich abgekühlt. »Meine Schwester ist ermordet worden, und danach haben wir immer nur reagiert und versucht, am Leben zu bleiben. Die haben uns von Anfang an im Visier gehabt!«
»Mein Gott«, sagte Ruth, »entschuldigen Sie. Ich habe Ihre Schwester sehr gemocht, aber ich habe nur diesen einen Sohn. Was passiert jetzt?«
»Keine Ahnung«, sagte Anna, »letztendlich war die Fahrt nach Ventspils ein Schuss in den Ofen! Udris ist wahrscheinlich tot, und der alte Russe, an den Petersen uns verwiesen hat, konnte nicht mehr sprechen. In Ventspils waren ein paar Typen hinter uns her, die wir, glaube ich, abgehängt haben. Es wäre aber trotzdem gut, wenn wir den Wagen wechseln könnten.«
»Gunnars Volvo steht hinter dem Haus«, sagte Ruth mit leiser Verbitterung, »er braucht ihn nicht mehr.«
Sie stand auf und räumte den Tisch ab. Dann setzten wir uns an den Kaminofen und sahen den Buchenscheiten beim Verbrennen zu.
»Euren Mietwagen fahre ich zurück nach Stockholm«, sagte Ruth nach einer Weile. Ich nickte ihr schweigend zu.
Wir alle waren müde und bedrückt, und die Stille lastete auf uns.
»Ich glaube, wir sind am Ende angelangt«, sagte Anna schließlich. Ihr Blick wanderte von Ruth zu mir. Hatte sie recht damit? Schließlich war sie es gewesen, die mir auf der Fahrt nach Lettland wegen meiner Angst derartig zugesetzt hatte. Doch es war tatsächlich niemand mehr da, der uns hätte erzählen können, was eigentlich passiert war. Wir hatten es vermasselt, aber vielleicht war es auch von Anfang an eine völlig wahnwitzige Idee gewesen.
Zeit für die Kavallerie.
BKA, Bundespolizei, Interpol, das ganze Programm. Nur gab es da einen kleinen Haken. Vier Menschen waren tot, und bei einem von ihnen hatte ich meinen Anteil dazu beigetragen. Das hätten wir den Ermittlungsbehörden wohl kaum verschweigen können. Ich dachte an schwere Körperverletzung, Behinderung der Polizeiarbeit, uneidliche Falschaussagen und meinen gut dotierten Job in München. Und an einen Mörder, der frei herumlief. Ein kultivierter Mann mit guten Manieren und medizinischen Kenntnissen, den ich unbedingt persönlich kennenlernen wollte. Was mich betraf, hatte ich den Punkt, an dem ich noch hätte umkehren können, hinter mir gelassen.
Ich schaute zu Anna hinüber, um ihr zu antworten, und sah, wie sich ihre Augen vor Überraschung weiteten, drehte mich in ihre Blickrichtung um, und dann hatte Gunnar seinen großen Auftritt.
In einem nachtblauen Seidenpyjama, dicken Wollsocken an den Füßen und auf dem Kopf eine Baseballkappe mit dem Emblem des 1. FC Bayern München stand er in der Wohnzimmertür und grinste verlegen. In der Hand hielt er einen A5-großen, braunen Briefumschlag, den er mir entgegenstreckte.
»Ich hab die Post vergessen«, sagte er.
Es war wichtig, ich wusste es und konnte mich trotzdem nicht rühren. Wir saßen alle völlig konsterniert da, aus Ruths Ecke kam ein leises, nervöses Kichern. Schließlich stand Anna auf, ging zu Gunnar hinüber und nahm ihm den Brief aus der Hand. Sie küsste ihn auf die Wange und sagte:
»Danke, Gunnar. Wir haben schon darauf gewartet.«
»Verdammt, du sollst keine Post annehmen, wenn ich nicht da bin!«, sagte Ruth mit nur mühsam unterdrückter Wut in der Stimme.
Gunnar zuckte zusammen. Dann sagte er würdevoll: »Der Brief ist ja nicht für dich« und ging hinaus.
Er hatte recht. Schon als Anna ihn mir herüberreichte, erkannte ich die Handschrift. Kleine, akkurate, etwas steile Buchstaben. Die Schrift eines Menschen, der sich beherrschen kann und die Dinge genau nimmt. Helens Schrift.
Thomas Nyström
co. Gunnar and Ruth Nyström
Ibsengatan 14
S – 35241 Växjö
Ich hielt den Brief in der Hand und spürte, wie mein Puls sich beschleunigte und in meinen Ohren zu dröhnen schien. Es gab eine Nachricht von Helen für mich. Sie hatte mich nicht einfach aus ihrem Leben radiert und sich davongemacht. Ich warf einen Blick auf den Poststempel. Der Brief war knapp vier Wochen alt.
»Ich habe so aufgepasst, wenn der Briefträger kam«, sagte Ruth bitter, »und dem Idioten eingeschärft, Gunnar keine Post auszuhändigen! Jetzt darf ich das ganze Haus nach Briefen absuchen, die er vielleicht irgendwo zwischengelagert hat.«
»Soll
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