Offenbarung
Standort aus war Haldora eine breite Sichel.
Auch ohne die Kontrastfilter ihres Helms konnte sie die farbigen
Gürtel erkennen, die sich von Pol zu Pol abwechselten: Ocker und
Orange, Sepia und Gelb, Zinnober und Bernstein. Wo die Farben sich
mischten oder ausliefen, bildeten sich Wirbel und Flecken; das
entzündete Scharlachauge eines Sturmsystems glich einem
Astknoten. Die vielen kleineren Monde im Orbit warfen dunkle
Schatten, und um die ganze Welt zog sich ein einziger heller
Ring.
Rachmika kauerte sich auf die Fersen. Das war ebenso unbequem, wie
nach oben zu schauen, aber sie hielt die Stellung, so lange sie
konnte, und wandte den Blick nicht von Haldora. Sie wollte dem
Gasriesen eine Auslöschung abtrotzen, ihn zwingen, das zu tun,
was sie alle ursprünglich hierher geführt hatte. Aber die
Welt hing wie festgemacht über der Landschaft, zum Greifen nahe
und so real wie alles, was sie je gesehen hatte.
Und doch, dachte sie, erlischst du manchmal. Dass
dies geschah – dass es immer noch vorkam –, war
unumstritten, jedenfalls für alle, die längere Zeit auf
Hela verbracht hatten. Du brauchst nur lange genug hinzusehen, dachte sie, dann wirst du es erleben – du brauchst nur
ein klein wenig Glück.
Aber heute war nicht ihr Glückstag.
Rachmika stand auf und ging, vorbei an der Schleuse, zum hinteren
Ende des Fahrzeugs. Von hier aus konnte sie die ganze Karawane
überschauen. Die anderen Wagen fuhren in wellenförmigen
Bewegungen über die leichten Unebenheiten der Piste. Der Zug war
jetzt noch länger als bei ihrer Ankunft: Irgendwann hatten sich
ohne großes Aufhebens ein Dutzend weiterer Fahrzeuge hinten
angeschlossen. Er würde immer weiter wachsen, bis er den Ewigen Weg erreichte, dann würde er in einzelne
Abschnitte zerfallen, die ihre jeweiligen Kathedralen
ansteuerten.
Sie hatte den hinteren Rand ihres Karawanenwagens erreicht.
Zwischen ihr und dem nächsten Fahrzeug gähnte ein Abgrund,
über den nur eine wenig Vertrauen erweckende Brücke aus
vielen Metallstäben führte. Von unten war es ihr nicht
aufgefallen, aber jetzt sah sie, dass der Abstand – vertikal wie
horizontal – sich ständig veränderte und die kleine
Brücke sich wie in unerträglichen Qualen hin und her warf.
Sie hatte auch kein festes Geländer wie der Laufsteg, auf dem
Rachmika jetzt stand, sondern nur noch Drähte aus Metall.
Darunter befand sich auf halber Höhe ein belüfteter
Verbindungsgang, der sich wie ein Blasebalg dehnte und wieder
zusammenschob und weit weniger gefährlich aussah.
Sie brauchte nur in den Wagen zurückzukehren und diesen
Verbindungsgang zu nehmen. Oder sie könnte es für diesen
Tag genug sein lassen. Sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt
Feinde zu machen, war wirklich nicht ratsam. Dazu hätte sie
sicher noch reichlich Gelegenheit.
Rachmika trat zurück, ging jedoch sofort wieder
vorwärts, streckte die Arme aus und fasste mit jeder Hand einen
der Drähte. Die Brücke schwankte, die Metallstäbe
glitten auseinander, dazwischen gähnte die Leere. Sie machte
einen weiteren Schritt nach vorne und setzte den Fuß auf den
ersten Stab.
Sie fand keinen festen Halt. Der Stab gab unter ihrem Stiefel
nach, sie war nicht sicher, ob er ihr Gewicht tragen würde.
»Nur zu«, ermunterte sie sich selbst.
Noch ein Schritt. Nun stand sie mit beiden Füßen auf
der Brücke. Sie schaute zurück. Das vorderste Fahrzeug
schwankte hin und her. Unter ihr schaukelte die Brücke, sie
wurde von einer Seite zur anderen geschleudert. Krampfhaft hielt sie
sich fest. Am liebsten hätte sie sofort kehrtgemacht, aber eine
innere Stimme erklärte ihr ganz ruhig, das dürfe sie nicht.
Wie wollte sie ihren Bruder jemals finden, wenn ihr schon für
diese einfache Probe der Mut fehlte?
Rachmika tat den nächsten Schritt. Sie musste diesen Abgrund
überqueren.
Fünfzehn
Ararat
2675
Blood kam mit vielen aufgerollten Karten unter den Armen in den
Konferenzraum geeilt, warf sie auf den Tisch und rollte eine davon
aus. Das dicke, cremig weiße Papier legte sich gehorsam flach.
Es war so breit wie die Platte und leicht fleckig wie Leder. Auf
einen Befehl von ihm schoben sich die topografischen Merkmale
reliefartig hervor, Schraffuren deuteten an, wo in diesem Teil von
Ararat derzeit Tag oder Nacht war. Längen- und Breitengrade
lagen, mit winzigen Ziffern gekennzeichnet, als leuchtendes
Gitternetz darüber.
Khouri beugte sich über die Karte und drehte sie ein wenig,
dann deutete sie auf eine kleine Inselkette.
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