Offenbarung
ist noch etwas, nicht wahr? Du sagtest doch, die
Kirchen könnten unmöglich alle Beweise für die
Veränderungen verschwinden lassen.«
»Richtig. Aber es gibt eine Anomalie.« Pietr
ließ das Geländer für einen Moment los und
drückte Rachmika etwas in die Hand. Es war ein kleiner
Metallzylinder mit Schraubdeckel. »Das solltest du dir
ansehen«, sagte er. »Es wird dich interessieren. Der
Zylinder enthält ein Stück Papier mit einigen Zeichen
darauf. Sie sind nicht kommentiert, denn dadurch würden sie noch
gefährlicher, sollte jemand von oben erkennen, worum es sich
handelt.«
»Etwas mehr wirst du mir aber doch erzählen
müssen.«
»In Skull Cliff, wo ich herkomme, wohnte ein Mann mit Namen
Saul Tempier. Ich kannte ihn. Er war ein alter Einsiedler, der in
einem verlassenen Flitzerschacht am Rande der Stadt hauste. Seinen
Lebensunterhalt verdiente er mit der Reparatur von Grabungsmaschinen.
Er war nicht wahnsinnig oder gewalttätig oder auch nur besonders
ungesellig; er kam nur nicht gut mit den anderen Dorfbewohnern aus,
und deshalb ging er ihnen lieber aus dem Weg. Er war ein
Ordnungsfanatiker, und die meisten Menschen fühlten sich in
seiner Gegenwart nicht wohl. Frauen, Geliebte oder Freunde
interessierten ihn nicht.«
»Und das hältst du für nicht besonders
ungesellig?«
»Nun ja, er war nicht direkt grob oder unfreundlich. Er hielt
sich sauber und hatte – soviel ich weiß – keine
wirklich unappetitlichen Gewohnheiten. Wenn man ihn besuchte, kochte
er Tee mit einem großen alten Samowar. Hin und wieder spielte
er auf einer uralten Neuronallaute. Und er wollte immer wissen, was
man von seinem Spiel hielt.« Rachmika sah unter dem Visier sein
Lächeln aufblitzen. »Tatsächlich klang es furchtbar,
aber ich brachte es nie übers Herz, ihm das zu sagen.«
»Woher kanntest du ihn?«
»Ich hatte den Maschinenpark instand zu halten. Die meisten
Reparaturen machten wir selbst, aber wenn wir im Rückstand waren
oder irgendetwas nicht richtig zum Laufen brachten, schaffte einer
von uns das Gerät in Tempiers Grotte. Ich besuchte ihn
vielleicht zwei- bis dreimal im Jahr, und das nicht ungern. Ich
mochte den alten Spinner, obwohl er ein so jämmerlicher
Lautenspieler war. Wie auch immer, Tempier wurde alt. Bei einer
unserer letzten Begegnungen – vor etwa elf oder zwölf
Jahren – sagte er, er wollte mir etwas zeigen. Ich wunderte
mich, dass er so viel Vertrauen zu mir hatte.«
»Wieso?«, fragte Rachmika. »Ich finde, du bist ein
Mensch, zu dem man leicht Vertrauen fasst, Pietr.«
»Soll das ein Kompliment sein?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann werde ich es einfach so auffassen. Wo war ich stehen
geblieben.«
»Tempier sagte, er wollte dir etwas zeigen.«
»Es war das Stück Papier, das ich dir eben gegeben habe,
genauer gesagt, ist dieses Papier eine genaue Kopie des Originals.
Wie sich herausstellte, hatte Tempier fast sein ganzes Leben lang
über die Auslöschungen Buch geführt. Er hatte auch
Hintergrundwissen zusammengetragen – die öffentlichen
Aufzeichnungen der Hauptkirchen miteinander verglichen und sogar
mehrfach den Weg aufgesucht, um in den Archiven zu forschen,
die sonst nicht zugänglich waren. Er war, wie gesagt, sehr
fleißig und fanatisch ordentlich, und als ich seine Notizen
sah, da war mir sofort klar, dass dies die beste private
Dokumentation der Auslöschungen war, die ich je gesehen hatte.
Ich bezweifle, dass es irgendwo auf Hela eine bessere Amateursammlung
gibt. Zu jeder einzelnen Auslöschung gab es eine Riesenmenge
Material – Notizen über Zeugen, ihre Glaubwürdigkeit
und anderes mehr. Wenn am Tag zuvor ein Vulkan ausgebrochen war,
hatte er auch das vermerkt. Jede Belanglosigkeit war festgehalten,
solange sie irgendwie ungewöhnlich war.«
»Er hat also etwas entdeckt. War es das Gleiche wie bei den
Numerikern?«
»Nein«, sagte Pietr. »Es war mehr. Tempier wusste
genau, was die Numeriker behauptet hatten. Zwischen ihren Daten und
seiner Sammlung gab es keinen Widerspruch. Er hielt es für
offensichtlich, dass die Auslöschungen häufiger
wurden.«
»Was hat er denn nun entdeckt?«
»Er fand heraus, dass die öffentlichen und die amtlichen
Aufzeichnungen nicht ganz übereinstimmen.«
Rachmika war enttäuscht. Sie hatte mehr erwartet. »Na
und?«, sagte sie. »Dass die Observatoren gelegentlich eine
Auslöschung melden, die niemand sonst bemerkt hat, wundert mich
nicht, besonders, wenn zugleich ein anderes Ereignis…«
»Du irrst dich«, sagte Pietr scharf.
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