Offenbarung
Zum ersten Mal
klang seine Stimme gereizt. »Es ging nicht darum, dass die
Kirchen eine Auslöschung gemeldet hätten, die niemand sonst
bemerkt hatte. Ganz im Gegenteil. Acht Jahre zuvor – von heute
aus gerechnet vor mehr als zwanzig Jahren – gab es eine
Auslöschung, die nicht in die Kirchenarchive aufgenommen wurde.
Verstehst du, was ich damit sagen will? Es kam zu einer
Auslöschung, sie wurde von Privatpersonen wie Tempier
beobachtet, aber die Kirchen behaupten, es wäre nichts
geschehen.«
»Aber das ergibt keinen Sinn. Warum sollten die Kirchen eine
Auslöschung aus den Akten streichen?«
»Genau die gleiche Frage hat sich Tempier gestellt.«
Der Ausflug auf das Dach war also doch nicht ganz umsonst gewesen.
»Gab es bei dieser Auslöschung irgendetwas
Ungewöhnliches, was erklären könnte, warum sie nicht
in die offiziellen Unterlagen aufgenommen wurde. Etwas, das den
üblichen Kriterien nicht ganz entsprach?«
»Zum Beispiel?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht war
sie besonders kurz?«
»Interessanterweise war es – wenn Tempiers Notizen
richtig sind – eine der längsten Auslöschungen, die
jemals beobachtet wurden. Sie dauerte volle ein und ein Fünftel
Sekunden.«
»Dann ist es vollkommen unbegreiflich. Was hält denn
dieser Tempier davon?«
»Gute Frage«, sagte Pietr. »Aber so bald werden wir
darauf keine Antwort bekommen. Saul Tempier ist nämlich leider
tot. Er starb vor sieben Jahren.«
»Das tut mir Leid. Mir scheint, du hattest ihn gern. Aber du
sagst ja selbst, er wurde alt.«
»Das stimmt, aber das hatte mit seinem Tod nichts zu tun. Er
starb an einem Elektroschock, offenbar bei der Reparatur einer seiner
Maschinen.«
»Nun gut.« Hoffentlich klang das nicht allzu herzlos.
»Er war eben fahrlässig geworden.«
»Nicht Saul Tempier«, sagte Pietr.
»Fahrlässigkeit war für diesen Mann ein Fremdwort. Das
war ihr großer Fehler.«
Rachmika runzelte die Stirn. »Wer sind
›sie‹?«
»Seine Mörder«, sagte Pietr.
Lange standen sie schweigend da. Die Karawane überwand den
höchsten Punkt der Brücke und machte sich an die lange
flache Abfahrt zur anderen Seite der Spalte. Die Klippen rückten
näher, die Falten und Risse der gemarterten Geologie traten
deutlicher hervor. Zur Linken konnte Rachmika an der
südwestlichen Klippenseite ein weiteres gewundenes Sims
unterscheiden. Es wirkte wie mit Bleistift zaghaft an die Wand
gestrichelt, eine Skizze, ein Vorläufer des eigentlichen Werks.
Doch dies war das Sims, und wenn sie erst dort waren,
hätten sie das Schlimmste überstanden. Die Brücke
hätte gehalten und die Welt wäre in Ordnung –
zumindest so weit wie zu Beginn der Überfahrt.
»Bist du in Wirklichkeit deshalb hier?«, fragte sie
Pietr. »Um herauszufinden, warum der alte Mann ermordet
wurde?«
»Du meinst, ich wollte ähnlich profane Nachforschungen
anstellen wie du?«, gab er zurück.
»Wenn das nicht der Grund ist, was dann?«
»Ich möchte wissen, warum Saul ermordet wurde, aber mehr
noch interessiert mich, warum man glaubt, Gottes Wort leugnen zu
müssen.«
Sie hatte ihn bereits nach seinen Überzeugungen befragt,
dennoch wollte sie die Grenzen seiner Aufrichtigkeit noch weiter
ausloten. Es musste einen Riss geben: einen kleinen Spalt des
Zweifels im Schild seiner Gläubigkeit. »Du hältst also
die Auslöschungen für Gottes Wort?«
»Davon bin ich fest überzeugt.«
»Wenn das so ist – und wenn sich das wirkliche Muster
der Auslöschungen von der offiziellen Version unterscheidet
–, dann glaubst du demnach, die wahre Botschaft würde
unterdrückt, das Wort Gottes würde nicht in seiner
unverfälschten Form an das Volk weitergegeben.«
»Genau.« Das klang sehr zufrieden. Er war froh, eine
Brücke über den gewaltigen Abgrund des
Unverständnisses geschlagen zu haben. Sie hatte das Gefühl,
als wäre zum ersten Mal seit einer Ewigkeit eine Last von ihm
genommen. »Mein Fehler war es, zu glauben, ich könnte die
Zweifel zum Schweigen bringen, indem ich meinen Verstand ausschaltete
und mich in die Beobachtung Haldoras versenkte. Aber es klappte
nicht. Sobald ich dich in all deiner leidenschaftlichen
Unabhängigkeit da stehen sah, begriff ich, dass ich auf eigene
Faust handeln musste.«
»So… so in etwa empfinde ich auch.«
»Willst du mir nicht sagen, was es mit deinen Nachforschungen
auf sich hat, Rachmika?«
Sie erzählte ihm von Harbin und dass sie glaubte, eine der
Kirchen hätte ihn aufgenommen und
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