Offenbarung
einen
Teil der Strecke bis zu den üblichen Schlupfwinkeln des Captains
zurücklegen. Irgendwann musste sie wechseln, und das hieß,
mehrere hundert Meter quer durch das Schiff zu laufen, immer
vorausgesetzt, seit ihrem letzten Besuch waren keine neuen Blockaden
aufgerichtet worden. Wäre es vielleicht besser, zuerst nach oben
zu fahren und sich einen anderen Schacht zu suchen? Die Alternativen
waren schwer zu übersehen, und Antoinette war sich schmerzlich
bewusst, dass dieses Mal im wahrsten Sinne des Wortes jede Minute den
Ausschlag geben könnte.
Doch dann fuhr die Kabine ohne ihr Zutun an.
»Hallo, John«, sagte sie.
Neunundzwanzig
Ararat
2675
Das Shuttle schwebte über Lager eins.
Die Sonne war fast untergegangen. Bevor ihr Licht vollends
erlosch, sahen Vasko und seine Begleiter den grün ummantelten
Turm hinter der Landspitze verschwinden. Die hohe Säule hatte in
den letzten Minuten einen langen Schatten geworfen, der sich nicht
nur mit der sinkenden Sonne, sondern auch mit der Position und mit
der Neigung des Schiffes bewegte. Es ging so langsam, dass das Auge
die Veränderung kaum wahrnahm. Ähnlich wie den
Stundenzeiger einer Uhr sah man den Schatten nur vorrücken, wenn
man eine oder zwei Minuten nicht hinschaute. Aber das Schiff wurde
tatsächlich von seinem Mantel aus Biomasse vorwärts
gezogen, und jetzt stand eine Landzunge zwischen ihm und der Bucht.
Sie war nicht sehr breit und nur wenige hundert Meter lang und konnte
die zu erwartenden Flutwellen sicher nicht völlig abhalten; aber
einen gewissen Schutz würde sie bieten, und der würde umso
wirksamer werden, je weiter sich das Schiff entfernte.
»Ist sie an Bord?«, fragte Khouri und starrte mit
großen Augen ins Leere. Aura schien wieder eingeschlafen zu
sein. Khouri sprach nur für sich allein.
»Ja«, sagte Vasko.
»Hoffentlich kann sie ihn zur Vernunft bringen.«
»Was da vorhin passierte…« Vasko sah sie an und
wartete vergeblich auf eine Reaktion. »Als Aura zu uns
sprach…«
»Ja?«
»War das wirklich Aura?«
Khouri kniff ein Auge zusammen und sah ihn fragend an.
»Stört Sie das? Ist Ihnen meine Tochter
unheimlich?«
»Ich wollte es nur wissen. Jetzt schläft sie, nicht
wahr?«
»Sie ist nicht in meinem Kopf, nein.«
»Aber sie war dort?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Malinin?«
»Ich möchte wissen, wie es funktioniert«, sagte er.
»Ich denke, sie könnte uns nützlich sein. Sie hat uns
bereits geholfen, aber das war erst der Anfang, nicht wahr?«
»Ich sagte es bereits«, erklärte Khouri. »Aura
kann uns vieles sagen. Wir brauchen nur auf sie zu
hören.«
Hela
2727
In der Nacht nach der Überquerung der Brücke saß
Rachmika allein in ihrem Zimmer und öffnete mit zitternden
Händen den kleinen Metallzylinder, den Pietr ihr gegeben hatte.
Sie hatte unwillkürlich Angst, getäuscht oder betrogen
worden zu sein. Aber der Zylinder enthielt nur ein dünnes
gelbliches Papierröllchen, das ihr wie eine Zigarette auf die
Handfläche fiel. Sie strich es sorgfältig glatt. Auf einer
Seite war eine Zeile mit schwachen grauen Zeichen zu sehen.
Ein ungeschultes Auge konnte zunächst gar nichts damit
anfangen. Bei Rachmika weckten die Zeichen eine schwache Erinnerung,
die sie nach einigem Überlegen auch zu fassen bekam. Die
senkrechten Striche – sie waren zu Gruppen geordnet,
rückten aber nach rechts hin immer enger zusammen – sahen
fast aus wie die Absorptionslinien im Spektrum eines Sterns, die sich
immer weiter zu einem Kontinuum von Zuständen hin verdichteten.
Doch hier standen die Linien für einzelne Auslöschungen,
und das Kontinuum lag in der Zukunft.
Was hatte die Darstellung zu bedeuten? Würden die
Auslöschungen zur Regel werden, würde Haldora irgendwann
flackern wie eine defekte Leuchtstoffröhre? Oder würde der
Planet ein für alle Mal aus der Realität verschwinden?
Wieder betrachtete sie das Papier und entdeckte über der
Zeile eine zweite Reihe mit ganz ähnlichen Zeichen. Nur an einer
Stelle stand unten ein Zeichen, für das es oben keine
Entsprechung gab.
Vor etwa zwanzig Jahren, hatte Pietr gesagt.
Vor etwa zwanzig Jahren war Haldora für ein und ein
Fünftel Sekunden verschwunden. Ein langer kosmischer Lidschlag.
Nicht nur ein Moment himmlischer Unaufmerksamkeit, sondern ein
ausgewachsenes göttliches Nickerchen.
Und in dieser Zeit war etwas geschehen, das den Kirchen so wenig
gefiel, dass sie vielleicht sogar den Tod eines harmlosen alten
Mannes in Kauf genommen
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