Offenbarung
höchstwahrscheinlich
zwangsweise indoktriniert. Eigentlich wolle sie daran gar nicht
denken, aber die Vernunft fordere, auch diese Möglichkeit in
Betracht zu ziehen. Der Rest der Familie habe sich schon vor
längerer Zeit mit Harbins Bekehrung abgefunden, sie selbst aber
könne ihn nicht so einfach loslassen. »Ich musste das
tun«, sagte sie. »Ich musste diese Pilgerfahrt
unternehmen.«
»Ich dachte, du wärst nicht auf Pilgerfahrt.«
»Nur ein Versprecher«, sagte sie. Aber sie wusste selbst
nicht so recht, ob sie daran noch glaubte.
Ararat
2675
Die oberen Decks der Sehnsucht nach Unendlichkeit waren
randvoll mit Flüchtlingen. Antoinette wollte sie nicht wie Vieh
betrachten, aber sobald sie vor der erdrückenden Masse stand und
nicht mehr oder nur noch mit Mühe vorwärts kam, wurde die
Frustration überwältigend. Es waren Menschen, ermahnte sie
sich immer wieder, gewöhnliche Menschen, wie sie selbst,
mitgerissen von einem Strom von Ereignissen, die sie kaum verstanden.
Unter anderen Umständen hätte sie leicht einer von ihnen
sein können, ebenso verängstigt, ebenso benommen. Ihr Vater
hatte immer wieder betont, wie schnell man sich auf der falschen
Seite des Zauns wiederfinden könne. Es kam nicht unbedingt auf
die Schärfe des Verstandes oder die Stärke des Willens an,
auch nicht immer auf den persönlichen Mut oder die
Herzensgüte. Ebenso gut konnte es daran liegen, an welcher
Stelle man im Alphabet stand, was man für eine Blutgruppe hatte,
oder ob einem das Schicksal einen Mann zum Vater gegeben hatte, der
ein Schiff besaß.
Sie vermied es, die Menschen, die auf ihre Abfertigung warteten,
rücksichtslos beiseite zu stoßen, sondern ließ sich
Zeit, suchte Blickkontakt, entschuldigte sich und lächelte nur
nachsichtig, wenn jemand ihr nicht sofort den Weg frei machte. Aber
der Mob – sie konnte ihn nicht anders bezeichnen – war so
groß und in seiner Masse so dumm, dass sie ihre guten
Vorsätze nur zwei Decks lang durchhielt. Dann riss ihr der
Geduldsfaden, und sie kämpfte sich mit aller Kraft und
zusammengebissenen Zähnen vorwärts und ignorierte die
Beleidigungen, die man ihr hinterherzischte.
Endlich hatte sie es geschafft und stieg über Leitern und
Treppen drei wohltuend leere Decks hinab. Es war fast dunkel, sie
tastete sich von einer flackernden Lichtquelle zur nächsten und
verwünschte sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte,
eine Taschenlampe mitzubringen. Der Boden war zwei Zentimeter hoch
mit einem klebrigen Brei bedeckt, den sie zwar an den
Füßen spürte, aber zum Glück nicht sehen
konnte.
Endlich fand sie an der Zentralachse einen Fahrstuhl, der noch in
Betrieb war, und drückte auf den Rufknopf. Die Neigung des
Schiffes war erschreckend deutlich zu spüren – sie stellte
eines von vielen Problemen bei der Abfertigung der Immigranten dar
–, aber die wichtigsten Schiffsfunktionen waren bislang offenbar
nicht beeinträchtigt. Als der Fahrstuhl sich lärmend in
Bewegung setzte und über die Induktionsschiene ratterte, nahm
sie sich die Zeit, auf ihrem Armband die Neutrinowerte abzurufen.
Wenn die planetenweiten Überwachungsgeräte noch
zuverlässig arbeiteten, war das Schiff nur noch fünf oder
sechs Prozent von der Kritikalität entfernt. War diese Schwelle
erst erreicht, dann hätte sich genügend Energie angestaut,
um das Schiff von Ararats Oberfläche abzuheben und in den Orbit
zu bringen.
Nur fünf oder sechs Prozent. Es hatte Phasen gegeben, in
denen sich der Neutrinofluss binnen weniger Minuten um diesen
Prozentsatz gesteigert hatte.
»Lassen Sie sich Zeit, John«, sagte sie. »Wir haben
es alle nicht so eilig.«
Der Fahrstuhl wurde langsamer und meldete seine Ankunft mit
großspurigem Klirren und Klappern. Die Türen öffneten
sich, und etwas von der zähen Flüssigkeit schwappte in den
Schacht. Antoinette trat in die leere Kabine. Wieder ärgerte sie
sich, keine Lampe mitgebracht zu haben. Sie wurde leichtsinnig,
setzte einfach voraus, dass der Captain sie wie eine alte Vertraute
in sein Reich einladen würde. Tritt ein. Leg die
Füße hoch. Wie geht es dir?
Und wenn er nun diesmal nicht so erfreut wäre über ihren
Besuch?
Das Spracheingabesystem des Fahrstuhls reagierte nicht. Antoinette
öffnete kurzerhand eine Klappe in der Wand und legte die
Handsteuerung frei. Doch dann verharrten ihre Finger unschlüssig
über den Schaltern. Die antiquierte Beschriftung war ihr
inzwischen vertraut. Aber sie konnte mit diesem Fahrstuhl nur
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