Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
das hörte sich nach einem Streit an. Da sie am Fenster
stand, konnte sie beobachten, was draußen vorging. Im
luftleeren Teil der Schleuse stand reglos eine Gestalt. Rachmika sah
durch das Visier des Rokokohelms kurz ein Männergesicht: Es war
ausdruckslos, aber es kam ihr irgendwie bekannt vor.
    Wer immer der Mann sein mochte, er stützte sich mit einer
Hand auf einen Krückstock und beobachtete aufmerksam das
Geschehen.
    Das Gezänk ging noch eine Weile weiter. Endlich trat Ruhe
ein. Rachmikas Gefährten setzten sich ihre Helme auf und
schlurften in die Luftschleuse. Eben hatten sie noch viel munterer
gewirkt. Mit dem Erreichen der Eiserne Katharina war ihre
Reise zu Ende, und ihren Blicken nach zu urteilen, entsprachen der
halbdunkle, schmuddelige Raum mit seinen Schrottmaschinen und den
gelangweilten Technikern nicht ganz dem, was sie sich erhofft hatten.
Aber Rachmika rief sich die Worte des Quästors in Erinnerung:
Der Dekan der Käthe sei ein anständiger Mann, der
Arbeitskräfte und Pilger gut behandle. Wenn das stimmte, konnten
sie sich alle glücklich preisen. Besser eine abgetakelte
Kathedrale mit einem guten Mann an der Spitze, als ein Irrenhaus wie
die Morwenna, das in sein Verderben fuhr. Dennoch musste sie
irgendwie versuchen, auf die Mor zu kommen.
    Als sie die Tür endlich erreicht hatte, legte ihr jemand die
Hand auf die Brust und hielt sie zurück. Sie hob den Kopf. Vor
ihr stand ein dicker Adventistenvertreter mit teigigen
Gesichtszügen.
    »Rachmika Els?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Die Pläne wurden geändert« sagte er.
»Sie fahren mit der Karawane weiter.«
     
    So brachte man sie fort von der Eiserne Katharina und von
der glatten Straße des Ewigen Weges. Abgesehen von dem
Mann mit dem Krückstock war sie der einzige Fahrgast im
Karawanenwagen. Der Mann im Druckanzug saß einfach da, ohne den
Helm abzunehmen, und klopfte mit dem Krückstock gegen seinen
Stiefelabsatz. Sein Gesicht konnte sie meist nicht sehen.
    Der Wagen holperte minutenlang über Eisrillen, während
die Hauptgruppe der Kathedralen langsam in der Ferne verschwand.
    »Wir fahren zur Morwenna, nicht wahr?«, fragte
Rachmika.
    Sie erwartete keine Antwort und bekam auch keine. Der Mann fasste
nur seinen Krückstock fester und neigte den Kopf, sodass das
Licht schräg auf das Visier fiel und es zu einer
undurchsichtigen Maske werden ließ. Als sie auf ebeneren Grund
kamen und sich an die Seite der Kathedrale setzten, war Rachmika
übel. Das kam nicht nur vom Schaukeln des Karawanenfahrzeugs,
auch das Gefühl, in der Falle zu sitzen, trug seinen Teil dazu
bei. Sie hatte zwar auf die Morwenna gewollt, aber sie hatte
nicht gewollt, dass die Morwenna sie einfach so zu sich
holte.
    Der Wagen fuhr neben dem majestätisch dahingleitenden
Kathedralengebirge her. Die Eiserne Katharina war auf
Raupenketten über Hela gekrochen, doch die Morwenna marschierte im wahrsten Sinne des Wortes auf zwanzig riesigen
trapezförmigen Füßen daher, zehn auf jeder Seite.
Jede Reihe war zweihundert Meter lang. Darüber erhob sich die
Masse des Hauptgebäudes. Sie war durch Strebepfeiler in Form von
riesigen Teleskopsäulen mit den Füßen verbunden. Die
Säulen waren keine Stützen im eigentlichen Sinn, sondern
eher die zu den Füßen gehörigen Beine: eine komplexe,
plumpe Mechanik mit Kolben an Stelle von Sehnen und Gelenken, die von
dicken segmentierten Kabeln und Stromleitungen durchzogen waren.
Bewegt wurden sie über Kurbelwellen, die waagerecht wie die
Ruder einer Sklavengaleere in der Wand des Hauptgebäudes
steckten. Ein Fuß um den anderen wurde drei bis vier Meter weit
angehoben, ein kleines Stück nach vorne geschoben und wieder auf
den Boden gesetzt. Auf diese Weise schob sich das ganze Gebäude
mit einer Geschwindigkeit von einem Drittel Meter pro Sekunde
gemessen voran.
    Rachmika wusste, dass die Kathedrale sehr alt war. Sie hatte sich
aus einem winzigen Samenkorn entwickelt, das bei der ersten
Besiedlung Helas durch die Menschen gepflanzt worden war.
Überall entdeckte das Mädchen Spuren von
Beschädigungen und Reparaturen, Umbauten und Erweiterungen, fast
wie bei einer Stadt, die man immer wieder mit ehrgeizigen
öffentlichen Bauvorhaben und Verbesserungsprojekten traktiert
hatte, wobei mit jedem neuen Plan der alte verworfen wurde. Zwischen
den mechanischen Teilen, sozusagen in Koexistenz damit, wimmelte es
nur so von unheimlichen Skulpturen: Teufelsfratzen und Greifen,
Drachen und Dämonen, aus Stein gehauen oder aus

Weitere Kostenlose Bücher