Offenbarung
den Rotz von der Oberlippe.
»Keine davon, Schätzchen.«
»Eine davon muss es sein«, sagte sie. »Das ist die
Hauptgruppe. Das Zuckerstück muss hier sein.«
»Es ist die Hauptgruppe, aber niemand hat behauptet, dass die Mor dazugehört.«
»Das ist Haarspalterei.«
»Hört, hört«, sagte ein anderer. »Die
kleine Kuh ist ja ganz schön eingebildet.«
»Na schön«, gab sie zurück. »Wenn die Morwenna nicht hier ist, wo ist sie dann?«
»Warum willst du das denn unbedingt wissen?«, fragte der
Erste.
»Sie ist die älteste Kathedrale auf dem Weg«, sagte sie. »Ist es da nicht nur natürlich, dass man sie
sehen will!«
»Wir suchen nur Arbeit, Schätzchen. Wo wir sie finden,
ist uns egal. Das Dreckseis, das man wegschaufeln muss, ist immer das
gleiche.«
»Ich möchte es trotzdem wissen«, sagte sie.
»Es ist keine von diesen Kathedralen«, ließ sich
eine dritte Stimme vernehmen. Sie klang gelangweilt, aber nicht
unverschämt. Ganz hinten lag ein Mann auf einer Liege. Er hielt
in einer Hand eine Zigarette, mit der anderen kratzte und rieb er in
den Tiefen seiner Hose herum. »Aber man kann sie
sehen.«
»Wo?«
»Komm hierher, kleines Mädchen. Ich zeige sie
dir«
Sie ging auf ihn zu.
»Nimm dich in Acht«, sagte eine andere Stimme. »Der
fällt dich an wie die Krätze.«
Sie zögerte. Der Mann wedelte mit seiner Zigarette und zog
auch die Hand aus der Hose. Sie endete in einer primitiven
Metallklaue. Er steckte die Zigarette in die Klaue und winkte
Rachmika mit der heilen Hand zu sich. »Schon gut. Ich stinke
zwar, aber ich beiße nicht. Keine Angst, ich will dir nur die Mor zeigen.«
»Ich weiß«, sagte sie und drängte sich an den
vielen Leibern vorbei.
Der Mann deutete hinter sich auf ein kleines, beschlagenes Fenster
und wischte es mit dem Ärmel ab. »Wenn du hier
durchschaust, kannst du gerade noch die Turmspitze sehen.«
Sie beugte sich vor, aber sie sah nur Landschaft. »Ich kann
nicht…«
»Da.« Der Mann drehte ihr Kinn, bis sie genau in die
richtige Richtung schaute. Er stank säuerlich. »Siehst du
dort zwischen den Klippen etwas herausragen?«
»Und ob da etwas herausragt«, bemerkte jemand.
»Schnauze!«, zischte Rachmika. Offenbar hatte sie genau
den richtigen Ton getroffen, denn niemand widersprach.
»Siehst du es jetzt?«, fragte der Mann.
»Ja. Aber wieso ist sie denn so weit draußen?
Fährt sie überhaupt noch auf dem Ewigen Weg?«
»O doch«, sagte der Mann. »Nur nicht auf dem Teil,
auf dem wir gewöhnlich fahren.«
»Weißt du das denn nicht?« fragte eine andere
Stimme.
»Wenn ich es wüsste, bräuchte ich nicht zu
fragen«, gab Rachmika gereizt zurück.
»Nicht weit von hier teilt sich der Weg«, erklärte der Mann so herablassend, als hätte er ein
Kind vor sich. Rachmika kam zu dem Schluss, dass er ihr doch
unsympathisch war. Er war zwar hilfsbereit, aber es kam auch darauf
an, wie man jemandem half. Manchmal war es besser, eine Bitte
abzulehnen, als sie widerwillig zu erfüllen. »Gabelt sich
in zwei Äste«, fuhr er fort. »Der eine wird
normalerweise befahren und führt hinunter zur
Teufelstreppe.«
»Die kenne ich«, sagte sie. »Zickzackrampen, die in
die Wand der Spalte gehauen wurden. Die Kathedralen fahren bis zum
Grund der Spalte, überqueren sie und fahren auf der anderen
Seite wieder hinauf.«
»Richtig. Und nun rate mal, wohin der andere Ast
führt?«
»Über die Brücke, nehme ich an.«
»Kluges Kind.«
Sie wich vom Fenster zurück. »Wenn ein Ast des Weges von der Brücke hierher führt, warum haben wir dann
nicht den genommen?«
»Weil das für eine Karawane nicht die schnellste
Möglichkeit ist. Karawanen können Ecken abschneiden,
Hänge hinaufkriechen und um enge Kurven fahren. Kathedralen
können das nicht. Sie müssen jedes Hindernis, das sie nicht
sprengen können, weiträumig umfahren. Jedenfalls wird der
Ast zur Brücke kaum gewartet. Wenn wir ihn genommen hätten,
hätten wir womöglich gar nicht erkannt, dass er zum Weg gehört.«
»Dann wird sich die Morwenna immer weiter von der
Hauptgruppe der Kathedralen entfernen«, sagte Rachmika.
»Bedeutet das nicht auch, dass Haldora nicht mehr genau
über ihr steht?«
»Nicht genau, nein.« Er kratzte sich mit seiner Klaue
die Wange, dass man die Stoppeln knistern hörte. »Aber auch
die Teufelstreppe liegt nicht genau auf dem Äquator. Man musste
graben, wo es eben ging, und nicht, wo man es gern getan hätte.
Noch etwas: Wenn man die Teufelstreppe fährt, muss man
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