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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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kalkulierter
Krafteinsatz auf Sparflamme und Geistesgegenwart gefragt. Die
Menschen waren geistig beweglicher und weniger anfällig
dafür, Fehler zu begehen. Er fragte sich, ob ihnen das klar war.
Im Augenblick vielleicht noch nicht, denn er bemühte sich sehr,
seine angeborenen Defizite zu kompensieren. Aber früher oder
später würde die Anstrengung ihren Tribut fordern, und dann
würde man seine Ausfallerscheinungen bemerken. Viele Menschen
– die Verbündeten, von denen Antoinette gesprochen hatte
– würden sich alle Mühe geben, seine schwindenden
Fähigkeiten zu ignorieren und seine Fehler zu entschuldigen.
Aber auch das konnte nicht endlos weitergehen. Irgendwann würden
seine Feinde diesen schleichenden Abbau bemerken und seine
Schwäche gegen ihn verwenden. Er wusste nicht, ob er die Kraft
fände, sich zurückzuziehen, bevor es allzu offensichtlich
wurde. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, denn die Frage
rührte zu schmerzlich an den Kern dessen, was er war und was er
niemals sein konnte.
    Antoinette hatte ihm nicht wehtun wollen, als sie die Zeit auf
Ararat als ›gute Jahre‹ bezeichnete. Sie hatte es ehrlich
gemeint, und dreiundzwanzig Jahre waren für jeden ein
ansehnlicher Teil des Lebens. Aber Antoinette war ein Mensch. Gewiss,
sie hatte keinen Zugang zu all den lebensverlängernden
Maßnahmen, die noch zweihundert Jahre zuvor
selbstverständlich gewesen waren. Davon profitierte heute
niemand mehr. Doch Antoinette war immer noch in der besseren
Position. Die Gene, die sie geerbt hatte, waren viele Jahrhunderte
zuvor dahingehend manipuliert worden, dass man die häufigsten
Todesursachen ausgemerzt hatte. Dadurch war ihre Lebenserwartung etwa
doppelt so hoch als ohne diese Veränderungen an ihren Vorfahren.
Ein Alter von einhundertfünfzig Jahren war nicht unerreichbar.
Mit viel Glück konnten es sogar zweihundert Jahre werden.
Vielleicht erlebte sie sogar die Wiederauferstehung jener anderen Art
von lebensverlängernder Medizin, die seit der Schmelzseuche so
knapp geworden war, und konnte davon profitieren. Das war in
Anbetracht der Umstände zwar eher unwahrscheinlich, aber es
bestand immerhin eine schwache Chance, ein kleiner
Hoffnungsschimmer.
    Scorpio war jetzt fünfzig. Wenn alles gut ging, konnte er
sechzig werden. Er hatte noch nie von einem Hyperschwein gehört,
das länger als fünfundsiebzig Jahre gelebt hätte, und
das älteste Schwein, das er selbst kennen gelernt hatte, war
einundsiebzig gewesen. Es war ein Jahr später innerhalb von
wenigen Monaten von einer Kombination von Krankheiten dahingerafft
worden, die in seinem Körper wie Zeitbomben getickt hatten.
    Selbst wenn er durch einen glücklichen Zufall eine
medizinische Einrichtung fände, die noch über die alten
Verjüngungs- und Lebensverlängerungstherapien
verfügte, wären sie für ihn nutzlos, weil sie allzu
genau auf die menschliche Biochemie zugeschnitten waren. Er wusste
vom Hörensagen, dass Schweine entsprechende Versuche unternommen
hatten, die aber samt und sonders erfolglos geblieben waren. Oft
genug waren die Patienten an tödlichen iatrogenen Nebenwirkungen
der Therapien vorzeitig gestorben.
    Das war also keine Alternative. Eigentlich blieb ihm nichts
anderes übrig, als in zehn bis fünfzehn Jahren zu sterben. Im günstigsten Fall war es erst in zwanzig
Jahren so weit. Aber auch das wäre weniger als die Zeit, die er
auf Ararat verbracht hatte.
    »Für mich war es die Hälfte meines Lebens«,
hatte er gesagt. Aber sie hatte ihn wohl nicht richtig verstanden. Er
hatte nicht nur die Hälfte des Lebens bis zu diesem Moment
gemeint, sondern die Hälfte der Lebensspanne, auf die er
insgesamt hoffen konnte. Die ersten zwanzig Jahre zählten
ohnehin kaum. Sein Leben hatte erst in dem Augenblick begonnen, als
er den Laser auf seine Schulter richtete und den grünen Skorpion
zu Narbengewebe verbrannte. Die Menschen pflegten für Jahrzehnte
zu planen. Er dachte in Jahren und verließ sich auch dabei auf
nichts.
    Die Frage war, ob er den Mut hatte, sich das einzugestehen? Wenn
er jetzt abträte und deutlich machte, dass der Grund sein
genetisches Erbe war – die Aussicht auf einen frühen Tod,
die untrennbar mit dem Schweinedasein verbunden war –,
würde ihm das niemand verübeln. Man würde ihn
verstehen und mit ihm fühlen. Aber vielleicht war es ein Fehler,
die Macht nur deshalb abzugeben, weil er den Schatten des Todes
spürte? Noch war dieser Schatten schwach. Wahrscheinlich war er
der Einzige, der ihn

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