Offenbarung
Die
gleichmäßigen Buchstaben waren ihr schon von hinten
bekannt vorgekommen. Als sie das Blatt nun umdrehte, sah sie, dass
die dunkelviolette Schrift ihre eigene war: kindlich noch, aber
unverwechselbar.
»Das ist meine Korrespondenz«, sagte sie. »Meine
Briefe an die archäologische Forschungsgruppe der
Kirche.«
»Sind Sie erstaunt, sie hier wieder zu finden?«
»Ich bin erstaunt, dass man sie gesammelt und Ihnen vorgelegt
hat«, sagte Rachmika. »Dass es möglich war,
überrascht mich nicht. Sie waren immerhin an eine Organisation
der adventistischen Kirche gerichtet.«
»Sind Sie jetzt empört?«
»Das kommt darauf an.« Sie war empört, aber
das war nicht ihre einzige Empfindung. »Hat diese Briefe
überhaupt jemals ein Vertreter der Forschungsgruppe zu Gesicht
bekommen?«
»Die ersten schon«, antwortete Quaiche. »Doch fast
alle anderen wurden abgefangen, bevor sie einen der Forscher
erreichten. Das ging nicht gegen Sie persönlich: Die Leute
erhalten ohnehin genügend Spinnerpost; wenn sie alles
beantworten müssten, kämen sie nicht mehr zu ihrer
Arbeit.«
»Ich bin kein Spinner«, sagte Rachmika.
»Nein, aber diese Briefe zeigen, dass Sie in der Flitzerfrage
eine ziemlich unorthodoxe Position vertreten, nicht wahr?«
»Wenn Sie die Wahrheit für unorthodox halten?«, gab
Rachmika zurück.
»Sie sind nicht die Einzige. Die Forschungsteams erhalten
viele Briefe von wohl meinenden Amateurforschern. Meistens sind sie
vollkommen wertlos. Jeder hat seine eigene kleine Lieblingstheorie
über die Flitzer, aber leider hat keiner von ihnen auch nur die
leiseste Ahnung von wissenschaftlicher Methodik.«
»So in etwa denke ich über die Forschungsteams«,
sagte Rachmika.
Er lachte. Ihre Dreistigkeit gefiel ihm. »Von Selbstzweifeln
sind Sie nicht angekränkelt, Miss Els, nicht wahr?«
Sie schob die Papiere zu einem unordentlichen Stapel zusammen und
stopfte sie in den Kasten zurück. »Ich habe damit gegen
kein Gesetz verstoßen«, sagte sie. »Ich habe Ihnen
von meiner Korrespondenz nur deshalb nichts erzählt, weil Sie
mich nicht danach gefragt haben.«
»Niemand behauptet, Sie hätten irgendwelche Vergehen
oder Verbrechen begangen. Ihre Briefe haben nur meine Neugier
geweckt. Ich habe sie gelesen und mitverfolgt, wie ihre Argumente im
Lauf der Zeit immer reifer wurden. Einige der Punkte, die Sie
ansprechen, halte ich sogar für durchaus
erwägenswert.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Rachmika.
»Nicht so spitz. Ich meine es ernst.«
»Es ist Ihnen doch völlig gleichgültig, Dekan.
Allen in der Kirche ist es gleichgültig. Wieso auch nicht? Ihre
Lehre verbietet alle Erklärungen außer der, die in den
Broschüren verbreitet wird.«
»Und die lautet?«, fragte er spöttisch.
»Die Flitzer sind ein unwichtiges Detail, und ihre Ausrottung
steht mit den Haldora-Auslöschungen in keinem Zusammenhang. Wenn
sie überhaupt eine theologische Funktion haben, dann sollen sie
vor Vermessenheit warnen und das dringende Bedürfnis nach
Erlösung unterstreichen.«
»Die Ausrottung einer Alien-Kultur ist doch heutzutage kein
großes Rätsel mehr?«
»Hier ist etwas anderes vorgefallen«, sagte Rachmika.
»Die Flitzer wurden nicht vom gleichen Schicksal ereilt wie die
Amarantin oder eine der anderen erloschenen Zivilisationen.«
»Das ist der Kern Ihrer Einwände?«
»Ich denke, es wäre besser, wenn wir wüssten, was
wirklich geschah.« Sie klopfte mit den Fingernägeln auf den
Deckel des Kästchens. »Sie wurden ausgelöscht, aber
die Katastrophe trägt nicht den Stempel der Unterdrücker.
Wer immer das getan hat, hinterließ zu viele Spuren.«
»Vielleicht hatten die Unterdrücker es eilig. Vielleicht
ging es ihnen nur darum, die Flitzer zu vernichten, die Artefakte
ihrer Kultur interessierten sie nicht.«
»Das ist nicht ihre Art. Ich weiß, wie sie mit den
Amarantin verfahren sind. Auf Resurgam hat nichts überlebt, was
nicht unter meterdickem Fels begraben worden war. Ich weiß, wie
es war, Dekan: Ich war dort.«
Er wandte sich ihr zu. Sein Lidspreizer blitzte auf. »Sie
waren dort?«
»Ich meine«, verbesserte sie sich hastig, »ich habe
so viel darüber gelesen und so lange darüber nachgedacht,
als wäre ich dort gewesen.« Ein Schauer
überlief sie: Hinterher ließ sich das Gesagte leicht
entschärfen, aber als sie es aussprach, war sie fest
überzeugt gewesen, es sei die Wahrheit.
»Das Problem ist«, sagte Quaiche, »wenn Sie die
Unterdrücker als mögliche Zerstörer der
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