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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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sehen sein.
    Die vorderste Kugel verschwand. Die mittlere war bereits fort, und
die am weitesten entfernte platzte einen Augenblick später.
    Er machte sich auf den Weg zur Kante. Die Brückenzunge
fühlte sich unter seinen Füßen so fest an wie zuvor,
obwohl sie nicht mehr mit der anderen Seite verbunden war. Als er
sich dem Ende näherte, wurde er langsamer. Dieser Teil
könnte weniger stabil sein als der Abschnitt unmittelbar an der
Klippe. Er war nur wenige Meter von der Detonationsgrenze entfernt
gewesen, und in diesem Bereich konnten die seltsamsten Quanteneffekte
auftreten. Möglicherweise hatten sich die atomaren Eigenschaften
des Brückenmaterials so verändert, dass die Festigkeit
bedenklich gelitten hatte. Da ging man besser auf Zehenspitzen –
auch wenn man ein Hyperschwein war.
    Als er sich der Kante näherte, wurde ihm schwindlig. Ein
wunderbar glatter Schnitt wie von einem Chirurgenskalpell. Diese
Präzision sowie die Tatsache, dass von der Mittelpartie
keinerlei Trümmer geblieben waren, ließen den Eindruck
entstehen, die Brücke sei erst im Bau, und vermittelten ihm das
Gefühl, weniger ein Wandale denn ein Bewunderer zu sein, der ein
noch unvollendetes Werk betrachtete.
    Er drehte sich um. Weit hinter der Stelle, wo seine Fähre auf
dem Eis hockte, kroch die Morwenna heran. Von hier aus gesehen
schien sie den Rand der Klippe bereits erreicht zu haben. In
Wirklichkeit hatte sie noch eine kleine Strecke zu fahren, aber bald
würde sie da sein.
    Wenn sie die Brücke nicht mehr vorfand, würde sie wohl
oder übel anhalten müssen. Die Frage, wie viel sie
riskieren wollte, wie groß die Chancen für eine
erfolgreiche Überquerung der Absolutionsschlucht wären,
stellte sich nicht mehr. Er hatte die Situation ein für alle Mal
geklärt. Es gab keine Lorbeeren mehr zu ernten, es gab nur noch
die Zerstörung.
    Wenn die Leute bei Verstand waren, mussten sie anhalten.
    In seinem Helm blinkte ein rosarotes Licht auf und gleichzeitig
schrillte ein Alarmton. Scorpio blieb stehen. Er befürchtete
schon einen Defekt an seinem Raumanzug. Doch das Blinklicht meldete
nur den Empfang eines starken modulierten Funksignals außerhalb
der üblichen Kommunikationsfrequenzen. Der Anzug wollte wissen,
ob er das Signal interpretieren und an ihn weiterleiten sollte.
    Wieder schaute Scorpio zur Kathedrale zurück. Es musste von
der Morwenna kommen.
    »Nur zu«, sagte er.
    Der Anzug erklärte, es handle sich um eine kurze
Aufzeichnung, die sich ständig wiederholte. Sie sei als
Hologramm formatiert.
    »Ich will es sehen«, befahl Scorpio. Er war jetzt nicht
mehr so sicher, dass es etwas mit der Kathedrale zu tun hatte.
    Zehn Meter vor ihm entstand eine Gestalt auf dem Eis. Niemand, den
er erwartet hätte; nicht einmal jemand, den er kannte. Die
Erscheinung trug keinen Raumanzug und hatte den seltsam
asymmetrischen Körperbau von Raumfahrern, die den
größten Teil ihrer Existenz in der Schwerelosigkeit
verbrachten. Die Gliedmaßen waren einsteckbare Prothesen, das
Gesicht war verwüstet wie eine Planetenoberfläche nach
einem kleineren Atomkrieg. Ein Ultra, dachte Scorpio; doch nach
kurzem Überlegen änderte er seine Meinung. Wahrscheinlich
war der Mann kein Ultra, sondern gehörte einer anderen, weniger
sozialen Gruppierung von menschlichen Raumfahrern an: den
Raumpiraten.
    »Du konntest sie nicht unangetastet lassen, wie?«,
fragte die Gestalt. »Ein Objekt, das so schön und zugleich
so rätselhaft war, konntest du einfach nicht ertragen. Du
musstest wissen, was es war. Du musstest wissen, wo seine Grenzen
lagen. Meine Brücke. Dieses wunderschöne, zarte Gebilde.
Ich habe sie für dich gebaut, sie stand hier wie ein Geschenk.
Aber damit konntest du dich nicht zufrieden geben. Du musstest sie
testen. Du musstest sie zerstören. Verdammt, du musstest sie kaputtmachen.«
    Scorpio ging einfach durch die Gestalt hindurch. »Tut mir
Leid«, sagte er. »Kein Interesse.«
    »Sie war so schön«, sagte der Mann. »So
verdammt schön.«
    »Sie war mir im Weg«, sagte Scorpio.
     
    Keiner der Anwesenden sah den Bericht, den Quaiche auf dem Display
seines Krankenstuhls las. Aber Rachmika beobachtete seine
Lippenbewegungen und bemerkte den leichten Ansatz eines
Stirnrunzelns, so als hätte er zum ersten Mal einen Fehler
begangen.
    »Worum geht es?«, fragte Grelier.
    »Die Brücke«, antwortete Quaiche. »Sie scheint
nicht mehr da zu sein.«
    Grelier beugte sich tiefer über den Stuhl. »Das muss ein
Irrtum sein.«
    »Offenbar

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