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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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»Das wird nicht geschehen.
Ich habe nicht einfach den erstbesten Fleck auf der Karte
gewählt. Diese Region ist geologisch extrem stabil. Die
Haltebucht selbst wurde tief in Helas Kruste verankert. Sie wird sich
nicht von der Stelle bewegen. Glauben Sie, ich hätte die
Geologie vergessen, nachdem ich so viel Mühe darauf verwandt
habe, dieses Schiff in die Hände zu bekommen!« Wieder ein
Klingelsignal. Quaiche zog sich ein biegsames Mikrofon heran und
flüsterte seinem Verbindungsmann an der Haltebucht etwas zu.
»Das ist hoch genug«, sagte er. »Kein Grund, noch
länger zu warten. Mr. Malinin?«
    Vasko sprach in seinen Kommunikator. Er verlangte nach Scorpio,
aber stattdessen meldete sich ein anderes Mitglied des
Ältestenrats.
    »Bitten Sie das Schiff, die Triebwerke zu zünden«,
sagte Vasko.
    Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sie bereits den Lichtschein
sahen. Zwei grell weiße Speere mit violetten Rändern
lösten sich aus den Synthetikertriebwerken. Die Kamera war von
so viel Helligkeit überfordert. Das Schiff schob sich ein
Stück nach vorne, der letzte matte Fluchtversuch eines
gefangenen Ungetüms. Aber die Haltebucht fing den Schock der
Triebwerksaktivierung ab, und die Unendlichkeit rutschte
allmählich in ihre Ausgangsposition zurück. Die Triebwerke
brannten sauber und ruhig.
    »Da«, sagte Grelier und zeigte auf ein Fenster des
Turmzimmers. »Wir können es direkt beobachten.«
    Die Abgasstrahlen strichen wie zwei erlöschende weiße
Suchscheinwerfer über den Horizont.
    Einen Augenblick später durchlief ein Zittern die Morwenna.
    Quaiche rief nach Grelier und deutete auf seine Augen.
»Entfernen Sie dieses grässliche Ding von meinem Gesicht.
Ich brauche es nicht mehr.«
    »Den Lidspreizer?«
    »Nehmen Sie ihn ab. Aber vorsichtig.«
    Grelier hob den Metallrahmen behutsam ab.
    »Es wird eine Weile dauern, bis Ihre Augenlider in die alte
Stellung zurückkehren«, erklärte er. »Bis dahin
würde ich die Sonnenbrille auflassen.«
    Quaiche hielt sich die dunklen Gläser vor das Gesicht wie ein
Kind, das mit der Brille eines Erwachsenen spielte. Ohne den
Lidspreizer waren sie viel zu groß und wollten nicht
halten.
    »Jetzt können wir gehen«, sagte er.
     
    Scorpio lief zu seinem Schiffchen, das wie ein flacher Kieselstein
auf dem Eis lag, stieg durch die offene Tür ein und steuerte von
den Resten der Brücke weg. Die Landschaft mit dem tiefen Riss
raste unter ihm vorbei, scharfe schwarze Schatten flossen wie
einzelne Tintenflecken darüber hin. Eine Wand der Spalte war
jetzt so schwarz wie die Nacht, die andere war nur am oberen Rand
erleuchtet. Scorpio wünschte sich einerseits, die Brücke
wäre noch da. Er hätte seine letzte Tat gerne
rückgängig gemacht, um die Konsequenzen in Ruhe
überdenken zu können. So war es ihm immer ergangen, wenn er
eine Person verletzt oder etwas beschädigt hatte. Jedes Mal
bereute er seine Impulsivität, doch diese Reue war nie von
Dauer.
    Er wusste jetzt, dass sich die Experten geirrt hatten, was die
Brücke anging. Sie war doch nicht von den Flitzern gebaut
worden, sondern von Menschen. Sicherlich hatte sie mehr als hundert
Jahre hier gestanden, aber sehr viel älter war sie wohl nicht.
Doch bevor sie zertrümmert, auseinander gerissen wurde, hatte
man nicht erfahren, woher sie stammte – nicht einmal, woraus sie
bestand. Sie war das Produkt einer weit fortgeschrittenen
Wissenschaft, aber es war eher die Wissenschaft der demarchistischen
Ära gewesen als die der verschwundenen Aliens. Er dachte an den
Mann, der ihm auf dem Eis erschienen war, an seine Trauer
darüber, dass sein wunderschönes Bauwerk zerstört
worden war. Aber es war keine Liveübertragung, sondern nur eine
Aufzeichnung gewesen. Sie war vermutlich bei der Fertigstellung der
Brücke angefertigt worden und sollte erst aktiviert werden, wenn
jemand das Bauwerk beschädigte oder zerstörte. Der
Baumeister hatte diese Möglichkeit demnach immer in Betracht
gezogen; vielleicht hatte er sogar damit gerechnet. Für Scorpio
hatte er sich so angehört, als hätten sich seine
Befürchtungen bestätigt.
    Die Fähre entfernte sich von der Spalte. Er flog jetzt
über festem Grund, unter ihm war andeutungsweise der Weg zu erkennen. Da fuhr auch die Morwenna, nur noch drei bis
vier Kilometer vom Abgrund entfernt, und zog ihren langen Schatten
hinter sich her wie eine schwarze Brautschleppe. Scorpio schlug sich
die Brücke und ihren Erbauer aus dem Sinn. Alles, was er wollte,
alles, worauf es jetzt noch

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