Offenbarung
geholt. Als man die Körperteile
zusammensetzte, entstanden abermals zwei Unikate. Doch eine genauere
Untersuchung kam zu einem überraschenden Ergebnis. Eine junge
Forscherin mit Namen Kimura hatte sich eingehender mit den Mustern
beschäftigt, die da entstanden, wo zwei Körpersegmente
aneinander rieben. Bei den beiden neuen Flitzern fiel ihr auf, dass
diese Kratzspuren nicht zusammenpassten: Es gab zwar eine Schramme am
Rand eines Panzers, aber kein Gegenstück dazu am nächsten
Segment.
Kimura nahm zunächst an, die Funde seien getürkt; es gab
bereits einen kleinen Markt für Flitzerfossilien. Dennoch wollte
sie der Sache auf den Grund gehen. Das Problem ließ sie
wochenlang nicht los. Sie war überzeugt, etwas Wichtiges
übersehen zu haben. Nach einem besonders anstrengenden Tag, an
dem sie die Kratzer mit immer stärkerer Vergrößerung
untersucht hatte, ging sie zu Bett und schlief ein. Doch die Muster
verfolgten sie bis in ihre Träume, und als sie erwachte,
stürmte sie sofort in ihr Labor. Ihr war ein Verdacht gekommen,
den sie überprüfen musste.
Es gab zu jedem Kratzer ein genaues Gegenstück – aber es
befand sich in allen Fällen am anderen Flitzer. Die
Flitzer tauschten Körperteile aus. Deshalb waren niemals zwei
Flitzer gleich. Sie schufen die Unterschiede selbst. Der Tausch wurde
im Rahmen eines feierlichen Rituals vollzogen, dann kroch jeder
Partner in seine eigene kleine Höhle zurück, um sich davon
zu erholen. Mit jedem neuen Flitzerpaar, das ausgegraben wurde,
zeigte sich deutlicher, dass die Zahl der
Kombinationsmöglichkeiten nahezu unendlich war. Der Tausch von
Körperteilen war einerseits pragmatisch sinnvoll, denn damit
ließ sich eine bessere Anpassung an bestimmte Aufgaben und
Lebensräume erreichen. Aber das Ritual entsprang auch einem
ästhetischen Bedürfnis: Atypisch zu sein, war das Ideal.
Diejenigen Flitzer, die sich möglichst weit vom
durchschnittlichen Körperbauplan entfernt hatten, waren die
sozial erfolgreichsten, denn sie mussten an vielen Tauschverfahren
teilgenommen haben. Waren dagegen zwei Flitzer identisch, dann galt
das – so vermuteten jedenfalls Kimura und ihre Kollegen –
als der größte gesellschaftliche Makel überhaupt.
Mindestens einer der beiden war ein Ausgestoßener, der keinen
Tauschpartner hatte finden können.
Nun kam es unter den menschlichen Forschern zu erbitterten
Auseinandersetzungen. Die Mehrheit war der Ansicht, ein solches
Verhalten könne sich nicht natürlich entwickelt haben; es
müsse sich um das Ergebnis gezielter biotechnischer Manipulation
handeln. Die Flitzer hätten in einer früheren Phase ihrer
Geschichte so lange an ihrer Anatomie herumgebastelt, bis ganze
Körperteile ohne mikrochirurgische Eingriffe und ohne Einsatz
von Immunsuppressiva von einem auf den anderen übertragen werden
konnten.
Eine Minderheit vertrat jedoch den Standpunkt, das Tauschverhalten
sei zu tief in der Kultur der Flitzer verwurzelt, um der
jüngeren Evolutionsgeschichte zu entstammen. Sie vermuteten, die
Flitzer hätten sich vor Jahrmilliarden in einer extrem
lebensfeindlichen Umgebung – dem evolutionsgeschichtlichen
Gegenstück eines Hummerkochtopfs – entwickelt. Die
Bedingungen wären so hart gewesen, dass es nicht genügte,
eine abgetrennte Gliedmaße nur regenerieren zu können. Wer
überleben wollte, musste fähig sein, sich die
Gliedmaße auf der Stelle wieder anzusetzen, bevor sie
aufgefressen wurde. Mit der Zeit waren die Extremitäten –
und später auch die großen Körperteile – so
robust geworden, dass sie vom Rest des Körpers gerissen werden
konnten, ohne abzusterben. Als der Überlebensdruck noch
stärker wurde, hatten die Flitzer die Fähigkeit der
Interkompatibilität entwickelt. Nun konnten sie nicht nur ihre
eigenen Körperteile, sondern auch die ihrer Verwandten
wiederverwerten.
Vielleicht hatten die Flitzer sogar selbst vergessen, wann das
Tauschritual entstanden war. Jedenfalls gab es in den wenigen
bildlichen Aufzeichnungen, die auf Hela jemals gefunden worden waren,
keinen Hinweis darauf. Der Tausch von Körperteilen war offenbar
so selbstverständlich gewesen, ein so integraler Bestandteil
ihrer Realität, dass sich jeder Kommentar dazu
erübrigte.
Rachmika stand nachdenklich vor dem bizarren Geschöpf. Wie
hätten die Flitzer wohl die Menschen gesehen? Wahrscheinlich
wären sie ihnen ebenfalls grotesk vorgekommen. Gerade ihre
Unveränderlichkeit wäre den Flitzern ein Gräuel
gewesen, Schrecken erregend wie der
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