Offene Geheimnisse und andere Enthuellungen
auch, ich gebe es zu), so zweifelhaft ist es doch, unseren Mitmenschen den Anblick unserer Körperteile zuzumuten, die im Englischen nicht umsonst »private parts« genannt werden.
Ja, die Körperregionen unterhalb des Bauchnabels sind privat und sollten es auch bleiben. Eigentlich hat man doch unter Nacktbadern ständig das Gefühl, etwas dargeboten zu bekommen, was nicht für unsere Augen bestimmt ist, zumal die meisten Menschen sich sonst züchtig verhüllen und es durchaus nicht schätzen, wenn Fremde ihre unbekleideten Geschlechtsteile sehen. Warum diese natürliche Scham komplett wegfällt, sobald die Leute in die Nähe eines Badesees oder anderer Gewässer kommen, ist mir schleierhaft.
Lange wurde Nacktheit ja als Synonym für Freiheit empfunden; zeitweilig galt die Freikörperkultur als Gipfel der Modernität, ja geradezu als politische Haltung. Aber angesichts der Flut von Nackten, die wir heutzutage an jedem Zeitungskiosk, im Kino, im Fernsehen, ja sogar im Theater präsentiert bekommen, können wir wohl davon ausgehen, inzwischen befreit zu sein. Und dürfen uns endlich wieder anziehen!
Poetisches aus dem Katalog
Da sage noch mal einer, wir lebten in einer profanen Warenwelt! Wer so was behauptet, hat noch nie einen dieser Kataloge in den Händen gehalten, deren Angebot nicht nur immer wieder von Neuem erstaunt, sondern auch literarisch höchst wertvoll präsentiert ist. Als erklärte Liebhaberin von Katalogen möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, welche Perlen der Sprachkunst ich in meinem Lieblingskatalog gefunden habe:
Decken Sie Ihren Tisch wie am Zarenhof – mit feinstem Tafeltuch aus Russischem Leinen. Das prachtvolle, florale Dessin dieser Decke wird auf museumsreifen Webstühlen eingewebt.
Spüren Sie den Hauch der Geschichte, die Ahnung von Ewigkeit, die aus diesen Worten zu uns spricht? Mit dieser Tischdecke werden wir Teil der Weltgeschichte, und unser sinnloses Dasein erhält endlich Bedeutung.
Vom russischen Zarenhof geht es nach Frankreich:
Dekorieren Sie Ihr Ambiente elegant wie die feinsten Pariser Modehäuser – mit Seidenblumen. So echt, dass man glaubt, ihren Duft zu atmen.
Wow! Da schaut man sich in der eigenen Bude um und denkt: Hey, das ist nicht einfach eine Drei-Zimmer-Wohnung, das ist ein Ambiente! Jawohl! Und das dekorieren wir jetzt so was von elegant, auch wenn die Seidenblumen einen ziemlich stolzen Preis zwischen 45 und 190 Euro haben. Und damit unsere Kinder das elegante Ambiente nicht mit ihren Dreckschuhen versauen, erstehen wir gleich noch eine Fußmatte, die uns mit folgenden Worten beschrieben wird:
Elegantes Entrée. Unerbittlich auch gegen groben Schmutz. Die Gummimatte mit elegantem Akanthus-Relief sammelt gierig Schmutz – ohne selbst zur Schmutzmatte zu werden.
Ist es nicht ergreifend? Sogar die Fußmatte bringt Eleganz in unser einfaches Heim, und sie kann etwas, wovon wir ein Leben lang träumen: Mit Schmutz in Berührung kommen, ohne dabei selbst beschmutzt zu werden. Und gierig darf sie sein, und wird dafür noch gelobt! Man könnte neidisch werden.
In unserem nunmehr eleganten Zuhause mit gieriger Fußmatte soll natürlich auch der Hund standesgemäß residieren, und zwar in
einer Designervilla, entworfen von dem renommierten Designer Michael Young. Jetzt wohnt Ihr Hund im großzügigen Ein-Raum-Apartment mit Freitreppe und überdachter Terrasse. Die separate Treppe erleichtert auch Welpen oder älteren Hunden den Zutritt zum Haus. Die Fensterbank stützt bequem Pfoten und Schnauze.
Da scheint der Preis von 475 Euro für ein orangefarbenes Plastikgebilde, das aussieht wie eine umgekippte Kinderbadewanne, fast untertrieben, oder?
Sobald wir unsere vier Wände verlassen, zählt natürlich das richtige Schuhwerk. Da gibt es nur eines:
Stiefel aus butterweichem Elchleder. Wie in einem Buch lässt sich in der Struktur des Leders »lesen«– Druckstellen zeugen von Bissen und den Kämpfen des Elchs, kleine Narben von Insektenstichen.
Ist es nicht faszinierend? Bisse und Kämpfe! Die wilde, ungezügelte Natur, und trotzdem butterweich. Wer solche Kontraste zu vereinen weiß, ist zweifellos ein Sprachkünstler.
Gut ist, wenn wir bei unseren Ausflügen die
Bognertasche mit Innenbeleuchtung
mit uns führen. Denn in dieser Tasche ist eine Lasche angebracht,
die Sie immer ganz leicht ertasten – ohne hinzusehen. Drücken Sie darauf – schon erscheint der Tascheninhalt in neonblauem Licht.
Wie hier
Tasche
und
Lasche
kunstvoll verbunden zu
neonblauem
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