Oh Happy Dates
Gail ist inzwischen mit dem Lipliner zugange.
»Ist der Perfekte P, der Poet, hier?«
Ich schüttele den Kopf. Meine Schwester befeuchtet mit der Zunge ein Papiertuch, um mir Lippenstift von der Nase zu wischen.
»Nein, er ist bei der Arbeit aufgehalten worden.«
»Oh du armes Ding! Und das ausgerechnet an deinem dreißigsten Geburtstag.« Es hätte gereicht, wenn sie ›Geburtstag‹ gesagt hätte. Die Dreißig hätte sie mir nicht unter die Nase reiben müssen. »Das ist schrecklich. Dir ist sicher ganz fürchterlich zumute.« Ich frage mich, ob die engelhafte Miss Winzig nicht etwas zu dick aufträgt.
»Hmm«, entgegne ich.
»Ich weiß sehr gut, wie du dich fühlst. Ich war mit einem Mann zusammen, der ständig gearbeitet hat. Und dabei habe ich immer gedacht, es sei eine andere Frau im Spiel. Man wird paranoid.«
»Und war es eine andere Frau?«
»Nein.«
»Warum hast du dich dann getrennt?«, frage ich.
»Ich dachte, ich sei zu jung für eine feste Beziehung.«
Meine Schwester und ich sehen sie mit fassungslosem Unverständnis an. Aber ihr kleines Gesicht wirkt so traurig. Deshalb machen wir das mitleidige »och«-Geräusch,
das Frauen von sich geben, wenn andere Frauen sich über Männer ärgern oder wenn sie ein Baby mit Ausschlag im Gesicht sehen. Dann fängt ihre Unterlippe an zu zittern. Und wir machen wieder »och«.
»Ich vermisse ihn«, flüstert sie.
»Ach, du armes Püppchen«, gurrt meine Schwester.
»Warum rufst du ihn nicht an?«, frage ich.
»Er nimmt meine Anrufe nicht entgegen!«, jammert sie.
»Schweinehund«, sage ich, als ich sie weinen sehe.
»Nein, er ist kein Schweinehund. Er ist reizend.«
»Und warum gehst du dann nicht einfach zu ihm? Hast du dich mal angesehen? Du bist so hübsch. Ich möchte wetten, wenn er dich wieder vor sich sieht, wird er bestimmt nicht Nein sagen können.«
»Aber was mache ich, wenn er sagt, ich solle verschwinden?« Sie schnieft.
Gail und ich sehen sie einen Moment lang ratlos an.
»Also man bedauert nur die Dinge, die man nicht tut. Vielleicht fühlst du dich eine Weile elend. Aber jetzt fühlst du dich auch elend.«
»Ja, vielleicht hast du recht. Danke«, sagt sie. Und sie kommt auf mich zu und umarmt mich.
»Ach, das war aber nett, was du zu ihr gesagt hast«, meint meine Schwester, nachdem das Mädchen gegangen ist.
»Hm. Vielleicht sollte ich mich als Ehestifterin versuchen. Ich könnte mich Super-Sarah nennen.«
»Dein Dad hat mich völlig erschöpft!« Es ist Julia, der die Haare feucht am Kopf kleben. Sie ist außer Atem. Sie beugt sich vor und hält sich an ihren Knien fest. Es ist eine Entspannungsposition, wie ich sie Leute habe einnehmen sehen, nachdem sie sich körperlich schwer verausgabt
haben. »Ich habe versucht, bei dieser Mick-Jagger-Nummer mitzuhalten, die er draufhat. Mir ist schlecht.«
»Und wie läuft es mit dem DJ?«
»Carlos«, seufzt sie. »Ich brauche deinen Rat. Er ist umwerfend, spielt ausgezeichnete Musik und hat große Hände. Was soll ich tun?«
»Also zufälligerweise habe ich ein Alter Ego. Ich bin Super-Sarah, die unglaubliche Kupplerin.«
»Du bist was?«
»Lass uns wieder reingehen.« Dann brülle ich los wie dieser beängstigende Personaltrainer vom Celebrity Fit Club : »Du gehst jetzt da raus und machst dein ›Hit Me Baby One More Time‹.«
55
Ich liebe Proben. Ich liebe es, in den Proberaum zu kommen und Tee zu trinken, Kekse zu essen und mit den anderen Schauspielern zu plaudern, ehe wir uns damit beschäftigen, worum es in dem Stück überhaupt gehen soll. Es macht mir Spaß, meine Szenen zu spielen und verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren. Aber am schönsten finde ich den Moment, wenn sich alles zusammenfügt. Wenn man seine Bühnenfigur so gut kennt, dass man sie im Pub oder im Laden um die Ecke spielen könnte. Als Kind habe ich mich immer verkleidet und so getan, als wäre ich jemand anders. Jetzt tue ich das noch immer, aber mich bezahlt jemand dafür. Es macht die nicht enden wollenden Armutsphasen, in denen man keine Arbeit hat und nur Ablehnung erfährt, wieder wett.
Und ganz besonders liebe ich die Proben an diesem Stück. Meine Figur hat jede Menge Anekdoten auf Lager, die sie dem Publikum direkt erzählt. Wenn ich nicht mit Dominic und der Truppe Szenen probe, studiere ich sie mit Tristan, dem Regieassistenten, ein. Er ist ein Naturtalent, was die Anwendung der Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode angeht. Für die Regiearbeit bedeutet das: Erst wird einem geschmeichelt,
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