Ohne Beweis (German Edition)
fühlte und dass er unbedingt herausfinden wollte, wer sein Vater und was mit ihm geschehen war. Dabei wollte Nora ihm helfen, so gut sie eben konnte.
So machte sie sich vom alten Rathaus auf den Weg hinüber zum Neubau und kam dabei wie immer an dem alten Fachwerkhaus vorbei, in dem früher die Bücherstube untergebracht war. Seit Wochen war das 1682 erbaute Haus angerüstet und die Dachdecker waren gerade dabei, das Haus neu zu decken. Carolin hatte ihr erzählt, dass sich nach den zehn Jahren, in denen die Bücherei in diesem Haus untergebracht gewesen war, endlich ein Käufer für das schöne Fachwerkhaus gefunden hatte. Eine junge Familie wollte das denkmalgeschützte Haus renovieren und zum Wohnhaus umbauen. Der neue Besitzer musste wegen der Auflagen des Denkmalamtes seinen Bauplan an die zwanzig Mal neu zeichnen und vieles, was er vorhatte, wurde dann doch nicht genehmigt. Dennoch freute es auch Nora, dass dieses tolle alte Haus, zumindest von außen, so erhalten blieb. Denn selbst in ihren jungen Augen war es eines der schönsten in ganz Ottenbach. Freundlich grüßte sie hinauf zu den Arbeitern, die in der Sonne schwitzten. Wie angenehm war doch im Sommer ihre Arbeit in der klimatisierten Werkstatt!
„Hallo Kamil!“, rief Nora schon von weitem. „Hast du kurz Zeit?“, fragte sie und schaute sich sogleich nach seinem Chef um. Dieser schien aber nicht da zu sein, zumindest war er momentan nirgends zu sehen. Alle Arbeiter waren dabei, ihre Handwerkssachen zusammen zu räumen.
„Ja, Nora. Du wissen was Neues?“, fragte er hoffnungsvoll, doch an ihrer Miene konnte er sogleich ablesen, dass sie keine guten Nachrichten brachte.
„Die Zeit ist zu kurz, Kamil. Du musst noch ein paar Tage hier bleiben. Es geht nicht anders“, sagte Nora und schaute ihn dabei mitleidig an. Es tat ihr so leid, dass sie ihm keine positivere Nachricht überbringen konnte.
„Aber ich haben kein Geld für Fahrt und schlafen hier!“, raunte Kamil ihr zu, denn seine Kollegen schauten schon interessiert herüber.
„Kein Problem, Kamil. Das bezahle ich. Ich will auch wissen, was mit deinem Vater passiert ist. Du kannst bei uns wohnen. Wir haben ein Gästezimmer“, beeilte Nora sich zu sagen und dachte dabei sogleich darüber nach, was sie ihrer Familie nachher sagen wollte.
„Das ich nicht annehmen. Wenn ich bleibe, dann zahlen zurück!“, beharrte Kamil und Nora schaffte es nicht, ihm das auszureden. Mit dem entgegen genommenen Versprechen, morgen nicht abzufahren und stattdessen bereits heute seine Sachen zu ihr auf den Hof zu bringen und dort zu übernachten, verabschiedete sich Nora, um ihrer Familie sofort Bescheid zu sagen, dass sie für die nächsten Tage einen Gast zu beherbergen hatten.
14
Vor Aufregung zitternd zog und zerrte die Frau an dem Gegenstand, doch nur widerwillig ließ sich ein Holzkästchen dann endlich herausziehen. Im Schein der Taschenlampe klappte sie den Kasten auf. Atemlos blickte sie auf dessen Inhalt: Ein ganzer Packen alter, vergilbter Briefe in einer altmodischen Handschrift. Die Frau wusste sofort, dass in den nächsten Stunden nicht an Schlafen zu denken war. Sie versuchte, es sich auf ihrer Pritsche so gemütlich wie möglich zu machen und vertiefte sich in den ersten Brief. Es war ein Liebesbrief zwischen einer Magd und ihrem Freund, der im 2. Weltkrieg als Soldat in den Krieg hatte ziehen müssen. Die beiden schilderten ihre jeweiligen Erlebnisse und beteuerten, treu zu sein und aufeinander zu warten. Auch die weiteren Briefe enthielten nicht viel Neues, doch beim vorletzten Brief waren die Worte der Magd hastig hingekritzelt und zeugten von großer Angst.
Mein liebster Johann,
obwohl der Krieg doch eigentlich zu Ende ist, ziehen hier immer wieder Horden von Plünderern durchs Tal. Gestern hat Vater einen von denen erschossen und wir haben ihn hinterm Hof im Wald vergraben. Es war so schrecklich und ich habe jeden Tag Angst, dass uns jemand beobachtet hat und Vater ins Gefängnis muss und ich dann auch, weil ich ihm doch geholfen hab! Komm zurück und helf uns! Wir haben doch fast nix mehr und das bisschen wollen die verdammten Plünderer uns auch noch wegnehmen!
Bitte komm bald gesund zurück! Bitte!!
In sehnsüchtiger Liebe, Deine Sophia
Zitternd ließ die Frau den Brief sinken. Ob mit Johann der Vater vom heutigen Bauern gemeint war? Warum mussten die auch immer ihre Kinder nach dem Vater benennen? Da kam man ja total
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