Ohne Beweis (German Edition)
den Blick. Sie wusste, das würde ein hartes Stück Arbeit werden, ihre Schwester wieder zu beruhigen und ihr Verhalten zu erklären.
22
Vor dem Vernehmungszimmer des Göppinger Polizeipräsidiums stapelten sich heute die Menschen, es ging zu wie in einem Bienenschwarm. So hatte sich Nora Joskas berufliches Umfeld nicht vorgestellt, jedenfalls nicht so hektisch. Doch als sie dann als Erste in den Verhörraum geführt wurde, war Joskas erster Satz:
„So wie heute geht es normalerweise nicht bei uns zu, Fräulein Angerer“, begann er betont geschäftsmäßig. Denn heute musste er Berufliches und Privates strikt trennen. So eine Zeugenbefragung war eine ernste Sache und das machte er durch seine förmliche Begrüßung mehr als deutlich. Anerkennend nickte ihm seine Chefin zu, die sich heute, zumindest in den Augen Joskas, besonders schick gemacht hatte. Wollte sie etwa Nora eifersüchtig machen? Diese wusste doch nichts von seinen Schwärmereien für seine Chefin? Seit er Nora kannte und sich in sie verliebt hatte, sah er seine Chefin sowieso nur noch als Vorgesetzte und nicht mehr wie früher als attraktive Frau. Vielleicht hatte sie sich auch nur deshalb so perfekt gestylt, weil noch drei weitere gut aussehende Frauen zu den Verhören geladen waren und sie da als Hauptkommissarin ein gutes Bild abgeben wollte?
Wie auch immer, heute hatte es der junge Herr Kiss mit einer ganzen Schar hübscher Frauen zu tun und das brachte ihn schon zu Beginn gehörig ins Schwitzen. Bei dem Gedanken, was ihm heute noch bevorstand und welche Geschichten er zu hören bekommen würde, seufzte er tief. Nach den üblichen Formalitäten stellte er Nora seine erste Frage, wobei er auf den Startknopf des Aufnahmegerätes drückte:
„Wie kam es zu dem Kontakt mit Herrn Kamil Rodzinsky, Fräulein Angerer?“
„Frau Lechner … also Carmen Lechner, hat sich während des Umzugs mit ihrer Bücherei ins neue Rathaus mit Kamil … äh … mit Herrn Rodzinsky angefreundet. Als wir mal männliche Hilfe bei den Regalen brauchten, hat Carmen ihn mitgebracht und abends hat Carolin … also, das ist ihre Zwillingsschwester, alle Helfer zu einem kleinen Umtrunk zu sich nach Hause eingeladen. Carmen wohnt ja auch dort und wollte eigentlich auch kommen, doch plötzlich ist ihr eingefallen, dass sie noch einen wichtigen Termin hat und sie ist weggefahren. Danach haben wir sie nicht mehr gesehen, sondern nur ihren Brief im Briefkasten der Bücherstube gefunden. Dieser liegt Ihnen ja bereits vor, nicht wahr?“, fragte Nora und hoffte, dass sie alles verständlich wiedergegeben hatte.
„Haben Sie das mit dem Wunsch nach Auszeit geglaubt?“, wollte Frau Müller-Harnisch wissen.
„Nein, eigentlich nicht. Ich konnte mir echt nicht vorstellen, dass sie ihre Kinder einfach so im Stich und vor allem im Ungewissen lässt. Außerdem hatte sie sich doch so aufs Einräumen der neuen Bücherstube gefreut. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Carolin meinte zwar, dass das an den Wechseljahres-Depressionen liegen könnte, mit denen Carmen anscheinend seit geraumer Zeit zu kämpfen hatte, aber das konnte ich nicht beurteilen. Jedenfalls habe ich mir bis zum Schluss große Sorgen um sie gemacht. Ich war sogar einmal mit meiner Mutter abends auf dem Mühlenhof, um ein bisschen rumzuschnüffeln. Wir haben dann im Haus ein verdächtiges Scheppern gehört, doch der Bauer hat uns sofort abgewimmelt. Vielleicht kann Ihnen Frau Hohenstein mehr darüber sagen. Eventuell war sie zu dieser Zeit schon bei ihm und hat das Geräusch auch gehört“, mutmaßte Nora, die es einfach nicht lassen konnte, sich Gedanken zu machen und zu kombinieren.
„Wir werden sie darauf ansprechen. Warum kamen Sie dann auf die Idee, Herrn Rodzinsky bei seiner Suche zu helfen?“, fragte Joska, obwohl er das ja schon wusste. Doch fürs Protokoll musste er es jetzt nochmals fragen.
„Er kam auf mich zu, weil eigentlich Carmen ihm hätte helfen sollen. Kamil war sich so sicher, dass der Bauer ihn angelogen hatte, als er ihm das Bild seines Vaters gezeigt hatte. Und wie wir ja nun inzwischen wissen, stimmte das ja auch.“
„Zumindest sieht es für uns so aus. In dem Brief, den Frau Hohenstein in dem Holzkasten gefunden hatte, stehen nur die Vornamen der Betroffenen. Das ist kein stichhaltiger Beweis, dass es sich dabei um das Geschwisterpaar Johann und Hildegard gehandelt hat und der im Brief erwähnte Rodzinsky könnte auch ein anderer gewesen sein. Hier
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