Ohne Chef ist auch keine Loesung
trotzdem: Es ist wichtig, dass wir uns hin und wieder daran erinnern. Dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich immer
wieder neu sensibilisieren. Für das, was wir gerne als alltäglich und selbstverständlich hinnehmen – was es aber nicht ist.
Diese |202| Denkweise erleichtert es uns, die Dinge realistischer zu sehen und ihnen gegenüber Wertschätzung und Dankbarkeit zu empfinden.
Wie schnell wir uns gerade auch im Arbeitsleben an Dinge gewöhnen und sie als selbstverständlich hinnehmen, verdeutlicht ein
Beispiel aus jüngerer Zeit: Als in Deutschland die Forderung aufkam, Arbeitnehmer sollten auf eine Woche Jahresurlaub verzichten,
um Arbeitsplätze zu sichern, kam es zu einem Sturm der Entrüstung. Bei einer Befragung der deutschen Arbeitnehmer zeigten
sich zwei Drittel über alle Maßen empört über diesen Vorschlag. Nun ist es natürlich wichtig und richtig, seine Errungenschaften
zu verteidigen – nicht zuletzt, da fünf Wochen Jahresurlaub durchaus sinnvoll sind, um die eigene Arbeitskraft ausreichend
regenerieren zu können. Problematisch hingegen war die Grundlage, auf der unsere Diskussion stattfand: Wir verteidigten unseren
fünfwöchigen Mindesturlaub wie ein selbstverständliches, angeborenes und unveräußerliches Menschenrecht. Dass es auch anders
sein könnte, schien uns völlig undenkbar. Dass es eine solche Regelung in kaum einem anderen Land der Welt gibt, vergessen
wir dann schon mal gerne. Wollen wir zum Beispiel in den USA eine Pauschalreise buchen, finden wir praktisch keine Angebote,
die über fünf bis sieben Tage hinausgehen. Warum? Weil das der Jahresurlaub ist, den viele Amerikaner haben.
Lieber ausgebrannt als ausgelangweilt
Und selbst wenn Sie Arbeit haben, ist es alles andere als selbstverständlich, dass Sie auch
tatsächlich
Arbeit haben.
Wie das? Über 30 Prozent der Arbeitnehmer leiden an Unterforderung am Arbeitsplatz, dem sogenannten Boreout-Syndrom. Im fünften
Kapitel haben wir das Problem Burnout thematisiert, |203| das Ausbrennen, die Überbelastung. Beim Boreout haben wir es mit dem Gegenteil zu tun – das sich allerdings nicht minder belastend
und gravierend auf unsere Psyche und unseren Körper auswirkt. In ihrem Buch
Diagnose Boreout
beschreiben die Autoren Philippe Rothlin und Peter Werder die Auswirkungen von chronischer Unterforderung am Arbeitsplatz:
Die Symptome sind Müdigkeit, Desinteresse, schlechte Laune, Leidenschaftslosigkeit, Langeweile und Identifikationsprobleme
– alles keine Kleinigkeiten. Menschen, die das Boreout-Syndrom gepackt hat, sind nicht faul. Sie wollen gerne arbeiten, doch
die Arbeit oder das Unternehmen gibt ihnen nicht die nötige Auslastung.
Diese dauerhafte Unterforderung klingt zunächst und kurzfristig einmal entspannend und wünschenswert (»Toll, endlich habe
ich Zeit, mein Ebay-Profil aufzumotzen«). Sie führt mittel- und langfristig jedoch eher zu mehr statt weniger Stress. Der
Arbeitsplatz wird zunehmend zum unangenehmen Wartezimmer, in dem man ständig auf die Uhr schaut, in der Hoffnung, dass eine
weitere Minute verstrichen ist. Man fühlt sich nutzlos und ungebraucht – das in jedem Menschen vorhandene Bedürfnis nach Anerkennung
und Dank kann nicht befriedigt werden.
Paradoxerweise wenden die Betroffenen verschiedene Verhaltensstrategien an, um beschäftigt zu wirken und sich zusätzliche
Arbeit vom Leib zu halten – was den Zustand der Unzufriedenheit zementiert: Sie reservieren Sitzungszimmer für private Gespräche,
bleiben länger im Büro, auch wenn sie eigentlich nichts zu tun haben, oder nehmen die nicht vorhandene Arbeit in Aktenkoffern
mit nach Hause. Immer nach dem Motto »Lieber ausgebrannt erscheinen als ausgelangweilt« – so Andreas Maisch in seinem
Welt-Online-
Artikel »Auch Langeweile im Job kann krank machen«. Sie tun dies, weil sie davon ausgehen, dass es erstrebenswert sei, bei
der Arbeit wenig bis nichts zu tun. Dabei |204| ist das über längere Zeit andauernde Nichtstun der blanke Horror!
Wenn Sie also nicht nur formal einen Job haben, sondern auch einen Chef, der Sie mit »echter« Arbeit versorgt, der Sie herausfordert
und Ihnen das Gefühl vermittelt, dass Sie gebraucht werden – dann ist das im doppelten Sinne nicht selbstverständlich. Und
ein doppelter Grund, dankbar zu sein.
Besten Dank für den Moment
Dass so vieles in unserem Arbeitsalltag, in unserem Miteinander nicht selbstverständlich ist: Das haben wir auf den letzten
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