Ohne ein Wort
Jahre vorher die Möglichkeit gehabt hätte, gegen seine tyrannische Frau aufzubegehren und die Scheidung einzureichen.
Oder schlicht und einfach zu gehen und ihr einen Zettel zu hinterlassen: »Liebe Enid, das war’s. Goodbye. Clayton.«
Zumindest hätte er damit sein Gesicht gewahrt.
Nein, er wollte kein Mitleid heischen, indem er mich bat, ihm von seiner Tochter zu erzählen. Aber trotzdem konnte ich einen wehleidigen Unterton aus seiner Stimme heraushören. Ich habe meine Tochter seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen. Wie sehr ich darunter leide.
Wirf mal einen Blick in den Spiegel, Bursche, hätte ich ihm am liebsten entgegengehalten. Dort wirst du ihn sehen: den Kerl, der eine ordentliche Portion Mitschuld trägt an all dem Wahnsinn, der passiert ist.
Doch ich sagte nur: »Sie ist wunderbar.«
Clayton wartete.
»Cyn ist der wunderbarste Mensch, den ich je getroffen habe«, sagte ich. »Ich liebe sie mehr, als ich es je in Worte fassen könnte. Und über all die Jahre, die ich sienun kenne, verfolgt das Geschehen von damals sie wie ein nicht enden wollender Albtraum. Darüber sollten Sie mal nachdenken. Wie es ist, eines Morgens aufzuwachen und niemand ist mehr da. Kein Vater, keine Mutter, kein Bruder. Niemand. Keine verdammte Menschenseele.« Ich kochte allmählich vor Wut, und meine Finger krampften sich um das Steuer. »Können Sie sich das auch nur ansatzweise vorstellen? Was sollte Cynthia denn denken? Dass ein Serienmörder ihre Eltern und ihren Bruder umgebracht hatte? Oder dass ihre Familie urplötzlich beschlossen hatte, sie zurückzulassen und woanders ein neues Leben zu beginnen?«
Clayton sah mich erschrocken an. »Das hat sie geglaubt?«
»Ja, verdammt noch mal. Tausendmal hat sie es sich zu erklären versucht! Sie haben Ihre Tochter im Stich gelassen! Geht das nicht in Ihren Kopf? Glauben Sie nicht, dass Sie ihr eine Erklärung schuldig gewesen wären? War es so unmöglich, ihr wenigstens ein paar Zeilen zukommen zu lassen, ein paar liebevolle Worte? Um ihr zumindest die Angst zu nehmen, ihre Familie hätte sie von einem Tag auf den anderen verlassen – einfach so!«
Clayton hatte den Blick gesenkt. Seine Hände zitterten.
»Mag ja sein, dass Cynthia nur deshalb noch lebt, weil Sie sich entschlossen haben, diesen Pakt mit Enid einzugehen und den Rest Ihres Lebens mit einer Bestie zu verbringen. Aber macht Sie das in irgendeiner Weise zum Helden, verdammt noch mal? Lassen Sie sich das gesagt sein: Ein Held hätte völlig anders gehandelt!Hätten Sie sich von Anfang an wie ein Mann verhalten, wäre nichts von alldem passiert!«
Clayton vergrub das Gesicht in den Händen.
»Eins wüsste ich gern noch von Ihnen.« Eine kalte Ruhe ergriff Besitz von mir. »Was für ein Mann bleibt bei einer Frau, die seinen Sohn ermordet hat? Ist so jemand überhaupt ein Mann? Wäre ich an Ihrer Stelle gewesen, hätte ich sie wahrscheinlich mit meinen eigenen Händen erwürgt.«
Dann waren wir am Fenster des Drive-in. Ich bezahlte, nahm die Papiertüte mit den McMuffins und zwei Becher Kaffee entgegen. Anschließend fuhr ich auf den Parkplatz, griff in die Tüte und warf ihm einen McMuffin in seinen Schoß.
»Viel Spaß beim Kauen«, sagte ich.
Es würde bestimmt nicht schaden, wenn ich mir kurz die Beine vertrat, und außerdem brauchte ich ein bisschen frische Luft. Ich wollte auch noch einmal zu Hause anrufen, nur für den Fall. Und so förderte ich mein Handy zutage, klappte es auf und warf einen Blick auf das Display.
»Verdammt«, stieß ich hervor.
Ich hatte eine Nachricht auf meiner Voicemail. Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Wieso hatte das Scheißhandy nicht geklingelt?
Wahrscheinlich hatte jemand angerufen, als wir hinter dem Massachusetts Turnpike auf der schier endlosen Strecke südlich von Lee unterwegs gewesen waren – dadraußen war es seit jeher schwierig mit dem Handyempfang.
Und dann hörte ich Cynthias Stimme: »Terry, ich bin’s. Warum gehst du weder ans Telefon noch ans Handy? Eigentlich wollte ich nach Hause zurückfahren, um mit dir zu reden, aber dann ist etwas wirklich Unglaubliches passiert. Ich war mit Grace in einem Motel und habe am Computer an der Rezeption meine Mails gecheckt – und da war eine E-Mail von dieser seltsamen Adresse mit dem Datum. Diesmal stand da nur eine Telefonnummer, und … Terry, ich habe dort angerufen, und weißt du, wer am anderen Ende war? Mein Bruder. Mein Bruder Todd. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich habe mit
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