Ohne Ende Leben - Roman
bis wir die Menschenmenge hinter uns gelassen haben. Nun stehen wir unter einer Straßenlaterne nahe dem Schaufenster eines Hellsehers.
»Ihr Jungs macht euch jetzt besser aus dem Staub«, sagt Miss D. Bevor wir losrennen, nimmt sie meine Hand. »Was immer dir Junior gesagt hat, Liebling, beherzige es. Solang ich ihn kenne, hat er sich nie geirrt. Und, Cameron«, fügt sie hinzu.
»Ja?«
Sie dreht das Streichholzheftchen in ihrer Hand. »Vielen Dank fürs Feuer, Süßer.«
Wir rennen einige Blocks weit, bis wir das Ufer des Mississippi erreichen. Ich beuge mich vornüber, um zu verschnaufen. Gonzo geht auf und ab und schnappt nach Luft.
»Was. Zum Teufel. War das?« Er wartet nicht auf meine Antwort. »Dieser Kerl … was war …?«
»Ich weiß es nicht.« Ich habe nicht die Absicht, diese Info mit Gonzo zu teilen. Sicher würde er ausflippen und sich verpissen.
»Er hat Junior Webster umgebracht!«
»Vielleicht war Junior in was verstrickt – Spielschulden oder, verdammt, ich weiß es nicht«, lüge ich. »Wir müssen uns drauf konzentrieren, Dr. X zu finden.«
Gonzo schüttelt den Kopf. »Das ist so was von abgefuckt, Mann.«
»Je eher wir Dr. X finden, umso schneller werd ich geheiltund du wirst … was auch immer – und fertig, aus. Einverstanden?«
Gonzo späht übers Wasser, als ob er die Sache überdenkt. Und die Dämmerung schickt bereits die Frühschicht, um den Himmel klarzumachen. Möwen tauchen neben Schleppdampfern nach ihrem Frühstück. Die im Morgenlicht glitzernden Kähne sehen aus wie dahintreibende Knochen.
»Ich hab Hunger«, sagt Gonzo, und ich denke, wir sind uns letzten Endes einig.
Das French Quarter ist wie leer gefegt. Die Abfalleimer quellen von Plastikbechern über und die Straßen sind eine einzige Müllhalde. Pferdegespanne trappeln über die Pflastersteine auf ihrem Weg nach Hause. Vor dem Tor eines Lagerhauses steht ein Lastwagen herum. Gonzo und ich finden ein 2 4-Stunden -Café, wo es Donuts gibt und Kaffee, der schmeckt, als ob er aus Kerosin gemacht und mit einem alten Stock umgerührt wurde. Aber er wärmt uns auf und verscheucht die letzten Überbleibsel der Nacht – also trinken wir ihn.
»Was war das, was er dir über seine Sonnenbrille erzählt hat?«, fragt Gonzo.
»Er hat mir gesagt, dass ich sie unter dem Engel begraben soll.« Ich hole sie aus dem Rucksack und lege sie auf den Tisch. Eine ganz gewöhnliche Sonnenbrille.
»Was soll das bedeuten?«
»Weiß nicht. Er hat gesagt, wenn ich’s getan hab, krieg ich ne Botschaft.«
Gonzo beißt in einen zweiten Donut. Der Puderzucker bedeckt seine Oberlippe wie ein Schnurrbart aus Schnee. »Das ist gaga, Alter.«
Er hat recht. Ich wünschte, Dulcie würde sich zeigen,uns einen Wink geben oder zwei, oder sie könnte einfach weich werden und uns sagen, wo wir Dr. X finden. Das trübe Morgenlicht drückt jetzt gegen die Fenster des Cafés, und mein Blick fällt auf ein hoffnungsloses Grüppchen, das mit uns zu dieser Unzeit hier sitzt: ein paar Krankenhausbedienstete, die von der Schicht kommen und versuchen, sich die Stichwunden und Schussverletzungen der Nacht wegzulachen. Ein paar obdachlose Spinner führen Selbstgespräche und genehmigen sich von ihren erbettelten Groschen einen Kaffee, obwohl Kaffee eigentlich das Letzte ist, was sie brauchen. Eine Gruppe immer noch betrunkener Studenten in zerknitterten Kostümen versucht mit Pfannkuchen und Toast nüchtern zu werden. Was für ein langer Weg von den stumpfsinnigen, streng choreografierten Fahrten der Rasenmähertraktoren in meinem sicheren kleinen Vorort bis hierher! Irgendetwas an dem Gedanken beschert mir zwiespältige Gefühle. Ich bin beides zugleich, traurig und beschwingt, als wüsste ich von einem Geheimnis, von dem die braven Bürger zu Hause in ihren Betten nichts ahnen. Selbst wenn das Geheimnis im Grunde nichts als das Wissen beinhaltet, wie allein wir hier draußen im illusionslosen Sechs-Uhr-Morgennebel sein können.
Gonzo fängt an, sich über
Captain Carnage
auszulassen und über die Zeit, in der er eine Schar blutrünstiger Teddys besiegt hat. Seine Stimme ist nichts als weißes Rauschen. Alles tut mir weh und mein Arm zittert. Ich will nur schlafen. Meine Lider fallen zu und sperren die Welt aus.
Ich träume von
Disney World
, aber das ist wie ein zusammengeschnipselter, grobkörniger Amateurfilm mit heruntergedrehtem Ton. Badezimmer im Hotel, Mom lächelt, während sie meine nassen Haare mit einem weißen
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