Ohne Ende Leben - Roman
nicht verlieren. Wenn du daran glaubst …«
»… dann kannst du es«, beende ich den Satz.
»Also, warum überprüfst du’s nicht? Denk an das Allerschlechteste, an das du denken kannst, und lass die Kugel rollen. Dann wirst du sehen, ob das Universum sauer reagiert.«
»Wenn ich traurig werde, ertönt das Alarmsignal und das Kommando taucht auf. Also kann man’s nicht wirklich testen«, sage ich.
»Hah.« Sie krempelt die Ärmel hoch und enthüllt dabei Wahnsinnsmuskeln. »Hier gibt’s ein Geheimnis«, sagt sie und guckt sich um. »Manchmal sind sie damit beschäftigt, irgendwas zu besorgen, und passen nicht auf. Wie jetzt gerade.«
Sie schnippt einen Schalter um, die Kugeln erwachen zum Leben und rollen auf ihren gut geölten, glänzenden Schienen her. Meine lila Lieblingskugel ist in Reichweite.Seit Tagen hatte ich keinerlei negative Gedanken. Ich bin außer Form. Zwar ärgere ich mich irgendwie über Gonzo, wegen dem, was er vorhin gesagt hat, ich bin aber nicht so wütend, dass ich mich echt darüber aufrege. Dulcie kommt mir in den Sinn, die Art, wie sie sich verzogen hat. Und dann schleicht sich ein Gedanke in meinen Kopf, den ich nicht beherrschen kann:
Was ist, wenn ich sie nie mehr wiedersehe?
»Oooh, du guckst ganz schön deprimiert. Jetzt wirf!«
Ich werfe die Kugel auf die Bahn. Sie prallt auf und torkelt über das glatte, polierte Holz. Eigentlich müsste sie in der Rinne landen, tut sie aber nicht. Sie rollt wieder in die Mitte und ich lande einen perfekten Strike.
»Versuch’s noch mal«, drängelt das Bibliotheksmädchen.
Dieses Mal stelle ich mir alle möglichen Situationen vor: Mom und Dad und Jenna wieder bei mir im Krankenhaus. Arme Kinder, die nicht Weihnachten feiern können. Geliebte Haustiere, die eingeschläfert werden. Den Verlust all meiner
Great Tremolo -CDs
. Pep Rallyes. Nach wie vor lande ich einen Strike nach dem anderen. Ich kann es einfach nicht vergeigen, obwohl ich es eindeutig versuche.
»Macht nicht mehr so viel Spaß, stimmt’s? Und jetzt zum zweiten Teil des Experiments …« Das Bibliotheksmädchen zieht einen Magneten aus ihrer Tasche und fummelt mit ihm an der Bedienungskonsole herum. Dann setzt sie den Magneten auch bei den anderen Bahnen ein. »Mach dieses Mal, was sie sagen: Umarme das Positive.«
Ich schließe die Augen und murmle mein Mantra:
Du kannst es, wenn du willst. Du hast es verdient zu gewinnen.
Als ich die Kugel loslasse, rollt sie in der Mitte hinunter und driftet dann zur Seite ab, rutscht in die Rinne und verschwindet,ohne einen einzigen Kegel umgestoßen zu haben. »Boah! Was ist da passiert?«
Das Bibliotheksmädchen hält den Magneten hoch. »Alles ist magnetisiert. In den Kugeln steckt ein kleiner Magnet und in den Rinnen auch. Sie stoßen die Kugel zurück. Wie ich schon sagte, du kannst nicht verlieren. Du gewinnst immer.«
»Aber wenn das Spiel manipuliert ist, dann ist das keine Leistung.«
Das Bibliotheksmädchen hält zwei Finger jeder Hand hoch und schreibt Anführungszeichen in die Luft: »Misserfolge vergrößern deine Glückseligkeit nicht.«
Ich gebe mir sechs, sieben weitere Versuche. Einmal schmeiße ich vier Kegel raus, mehr schaffe ich nicht. »Vielleicht hast du das Spiel jetzt zu schwer gemacht«, sage ich.
»Oder vielleicht bist du einfach nicht die ganze Zeit so fantastisch, besonders und perfekt.«
»Das ist brutal«, antworte ich, obwohl mir mein Bauchgefühl sagt, dass sie recht hat; ich habe mich so daran gewöhnt, nur die guten Nachrichten zu hören. »Aber was ist mit dem, was sie hier sagen: dass wetteifern deinem Glück Leid zufügt, dass wir unsere schlechten Gefühle loswerden müssen, um glücklich zu sein?«
Sie rollt mit den Augen und knurrt. »Du kannst keins deiner Gefühle ›loswerden‹! Schließlich sind wir menschliche Wesen! Wenn mich irgendein Trottel anpisst, juckt’s mich, ihm die Scheiße aus dem Hirn zu prügeln. Aber ich tu’s nicht, denn wenn wir uns die ganze Zeit mit Leuten herumprügeln würden, kämen wir niemals dazu, einzukaufen oder unseren Hund Gassi zu führen oder schön essen zu gehen. Das wär ein totales Chaos. Deshalb gibt’s die Kultur. Und die Tischmanieren.«
»Genau! Aber gerade deshalb gibt’s doch diese Kirche. Um aus uns bessere Menschen zu machen. Und um bessere Menschen zu werden, müssen wir alle negativen Gefühle loswerden.«
»Nein. Wir müssen lernen, mit ihnen zu leben. Welche von den sogenannten negativen Gefühlen können uns
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