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Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Titel: Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Hyun
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verloren gehen könnte. Wir hatten die Sorge, dass Vater mit dem ICE womöglich bis München durchfahren würde. Simone malte sogar den Teufel an die Wand: Sie ging so weit, dass sie Vater irgendwo hilflos in Wladiwostok aussteigen sah. Julia kam auf die brillante Idee, Vater ein Schild umzuhängen mit der Aufschrift: »Lieber Herr Schaffner, ich muss am Frankfurter Flughafen aussteigen! Bitte helfen Sie mir!«
    Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann Vater das letzte Mal mit dem ICE, geschweige denn überhaupt mit der Deutschen Bahn, unterwegs war. Julia beauftragte Simone, Vater den wichtigen Satz, den er beim Schaffner anwenden sollte, zu lehren: »Ich muss am Frankfurter Flughafen aussteigen. Können Sie mir kurz vorher Bescheid geben?« Simone schmiss diesen Lehrauftrag schnell hin, als Vater auch beim zweihundertsten Mal den Satz nicht hinbekam. Er sprach den Satz in so einem gebrochenen Deutsch aus, dass ihn bei aller Nächstenliebe keiner hätte verstehen können.
    »Gott wird schon mit ihm sein!«, sagte Simone und reckte lachend beide Daumen nach oben. Julia und mir war es zu riskant, auf Gott alleine zu zählen. Man weiß nie, was der Herrgott gerade so treibt. Zudem schläft Vater sehr gerne bei den Sonntagspredigten in der koreanischen Gemeinde ein. Das Einschlafen während der Predigten verschaffte Vater sogar ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Pastor. Der liebe Gott bestraft kleine Sünden sofort.
    Die Zugfahrt war aber noch unsere geringste Sorge. Seine alte Heimat hatte sich in allen Facetten weiterentwickelt, während Vaters Entwicklung mit der Ankunft in Deutschland zum Stillstand gekommen war. Das alte Korea, wie Vater es erlebt und erfahren hatte, existiert schon lange nicht mehr. Das moderne Korea nahm sich vieler westlicher Einflüsse an. Bei seiner Ankunft würde Vater sein Korea nicht mehr vorfinden. Wie würde Vater all das verkraften, fragte ich mich.
    Der Abreisetag war gekommen und die Koffer gepackt. Schon Stunden vorher saß Vater gekämmt und gebadet in seinem feinsten Anzug im Wohnzimmer. Vater, der zu Verabredungen und Terminen notorisch zu spät kommt, war nun überpünktlich. Er wirkte so aufgeregt wie ein Schuljunge, der seinen ersten Schultag herbeisehnte. Simone war von dem Anblick so emotional ergriffen, dass sie anfing zu weinen. Unsere Sorge, Vater könnte die ICE-Fahrt vielleicht nicht meistern, stellte sich als völlig unbegründet heraus. Der Flug bis Seoul-Incheon verlief problemlos. Als Kettenraucher hatte Vater bestimmt so seine Probleme, bei dem über zehnstündigen Flug seine Zigaretten in der Schachtel zu behalten. Ich hatte Sorge, dass Vater in die Hauptnachrichten kommen würde, weil das Flugzeug wegen Vaters Nikotinsucht irgendwo notlanden musste. Aber es kam nichts in den Nachrichten, und auch sonst hörten wir keine skurrilen Meldungen. Wir hörten gar nichts. Vor lauter Freude, den Boden seiner alten Heimat zu betreten, vergaß Vater, sich bei uns zu melden. Nach einer Woche kam Vater nicht zurück aus Korea. Er meldete sich über Wochen nicht mehr. Bis Mutter schließlich Oma anrief und sich nach Vaters Wohlbefinden erkundigte.
    Es gehe ihm gut, versicherte uns Oma. »Hyun Sae-Bang lacht und redet viel!«, fügte Oma hinzu. Busan-Tante schickte uns einige Fotos per E-Mail. Eines zeigt Vater auf dem Gukje-Markt in Busan. Vater schaut ungläubig um sich wie ein Junge im Schlaraffenland, der nicht weiß, an welchen Köstlichkeiten er zuerst knabbern soll. Ein anderes Foto zeigt Vater, wie er das Grab seines Vaters pflegt. Opa liegt an einem Berg in Ulsan begraben. Er hat einen wundervollen Ausblick auf das Ostmeer. Ich bin mir sicher, dass Opa dort seinen Seelenfrieden gefunden hat.
    Erst drei Wochen später rief uns Vater an. Seine Stimme war kaum wiederzuerkennen. Sie klang heller und fröhlicher. Die Melancholie und die Trübsal waren aus der Stimme verflogen. Die Rückkehr in seine Heimat war eine Reise zurück und gleichzeitig eine Heimkehr in die Zukunft. Alte Sehnsüchte wurden gestillt. Der Geist und Körper mit Vertrautem gefüllt. Vater blieb vier Wochen im Land der Morgenstille. Seitdem wirkt Vater jünger und dynamischer, wie in seinen Anfangstagen, als er nach Deutschland kam. Es wird nicht seine letzte Reise zurück gewesen sein.

SEOUL, SEOUL
    W enn man in einer koreanischen Migrantenfamilie aufwächst, dann wird einem das perfekte Kofferpacken quasi in die Wiege gelegt. Mein Vater kam 1969 mit nur zwei kleinen Koffern nach Deutschland. Auf

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