Ohne Gnade
entgegen.
»Kann ich mich jetzt anziehen?« fragte sie ruhig.
Er ging wie ein Nachtwandler zur Tür, öffnete sie, drehte sich um und befeuchtete seine trockenen Lippen.
»Tut mir leid, Bella. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.«
»Schon gut, Harry.«
Sie blieb stehen und sah ihn an, aber in ihren Augen war nur Mitleid zu lesen, und das war nicht das, was er wollte. Er schloß die Tür, ging zu seinem Schreibtisch und drückte auf die Summertaste. Noch verfügte er über Macht.
Nach einer Weile kam Craig herein. Seine Lippen waren angeschwollen.
»Ja, Mr. Faulkner?«
»Ist Miller fort?«
»Seit etwa fünf Minuten. Offenbar bringt er Ihre Schwägerin nach Hause.«
»Genau ihr Typ.« Faulkner drückte wütend seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Es wird Zeit, daß er einen Denkzettel bekommt. Verstehen Sie mich, Craig?«
»Durchaus«, sagte Craig mit ausdrucksloser Miene. »Ich sorge dafür, Mr. Faulkner.«
»An Ihrer Stelle würde ich keine Zeit verlieren. Vielleicht bleibt er nicht lange im Schulhaus.«
»Eine Viertelstunde, länger dauert es nicht, Mr. Faulkner.«
Craig zog sich zurück. Faulkner trat an die Bar und füllte ein Glas mit Sprudel. Er trank langsam und starrte vor sich hin. Nach einer Weile ging die Schlafzimmertür auf, und Bella erschien.
Sie sah wunderschön aus, frisch geschminkt, in einem dreiviertellangen Kleid aus schwarzer Spitze.
»Fertig, Harry?« fragte sie.
Er griff nach ihren Händen und schüttelte den Kopf.
»Mein Gott, bin ich stolz auf dich, Bella. Du bist das schönste Wesen, das mir je begegnet ist.«
Sie küßte ihn zärtlich auf die Wange und nahm seinen Arm. Als sie die Tür öffneten, um zu ihren Gästen zurückzukehren, lächelten sie beide.
16
Von der Wohnung aus sah man in den Schulhof hinunter. Als Nick den Vorhang zurückschob und in die Nacht hinausstarrte, prasselte immer noch der Regen auf den Asphalt. Nebel waberte um den eisernen Zaun, gelblich im Schein der Straßenlaternen.
»Wie viele Kinder besuchen deine Schule?« rief er.
Jean Fleming stand im Schlafzimmer.
»Hundertdreiundfünfzig«, erwiderte sie. »Ich könnte ohne Schwierigkeiten doppelt so viele nehmen, aber man bekommt die Lehrkräfte nicht.«
Als er sich umdrehte, sah er sie durch die halb geöffnete Tür vor dem Spiegel stehen, nur im Unterkleid. Sie nestelte an ihren Strümpfen.
Er beobachtete sie, während sie sich auskleidete, auf merkwürdige Weise objektiv, ohne etwas von der überwältigenden körperlichen Anziehungskraft zu spüren, die ihn vorher überfallen hatte.
Die geheimen Reize eines Frauenkörpers. War es das, was er wollte?
Er drehte sich um und schaute wieder in den Regen hinaus. Aus dem Musikzimmer darunter drang Chuck Lazers Klavierspiel herauf. Er spielte die alten Schlager von Irving Berlin, Cole Porter und Richard Rogers. Lieder, wie man sie heutzutage nicht mehr schrieb. Ein Hauch von vergangenen Sommern, die nichts hinterlassen hatten als melancholische Erinnerungen.
Jean kam zurück. Sie trug eine enge karierte Hose und eine gesteppte Jacke. Auf ihrem Gesicht war keine Schminke mehr zu sehen, so daß sie erstaunlich jung und unschuldig wirkte.
»Was möchtest du – Kaffee oder Tee?«
»Tee, wenn es dir nichts ausmacht, dann muß ich wieder gehen.«
Sie runzelte die Stirn.
»Mußt du wirklich?«
Er nickte.
»Ich bin immer noch im Dienst.«
Sie ging in die Küche und füllte den Kessel mit Wasser. Er lehnte an der Tür und beobachtete sie. Sie holte ein Tablett, löffelte Tee in eine alte, braune Kanne, setzte sich auf einen Hocker und schlang die Arme um die Knie, während sie wartete, bis das Wasser kochte.
Sie hatten etwas verloren, die Verbundenheit spontaner Natur, wie sie sie vorhin erlebt hatten, und Nick suchte hastig nach dem richtigen Ton.
»Sie ist viel größer, als ich dachte.«
»Die Schule?« Sie nickte. »Zuerst gab es nur dieses alte Gebäude hier, aber Miß Van Heflin ließ es erweitern. Hinten haben wir jetzt zusätzliche Klassenzimmer. Man sieht sie nur bei Tag richtig.«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Fünf Jahre. Seit ich das Diplom bekam. Als Ben verhaftet wurde, glaubte ich, die Ausbildung nicht fortsetzen zu können. Der Leiter der Lehrerbildungsanstalt, die ich besuchen wollte, schrieb mir, er könne mich nun doch nicht aufnehmen.«
»Was hast du getan?«
»Zuerst heulte ich, dann wurde ich wütend.« Sie
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