Ohne jede Spur
stehen.
«Ich will Mr Smith», quengelte die Kleine.
Jason streckte die Hand nach ihr aus und ging wortlos mit ihr ins Wohnzimmer zurück.
Es war ein kleines Wohnzimmer. Eine winzige Couch, zwei Holzstühle, eine Truhe mit Spitzendecken, die anscheinend auch als Beistelltisch diente. In der Ecke stand auf einem Regal aus Eichenimitat ein bescheidener Fernsehapparat.Sonst gab es noch einen kleinen Kinderschreibtisch, Dosen voller Wachsmalstifte und an die zwei Dutzend Barbie-Puppen. Der Farbpalette nach zu urteilen liebte Ree vor allem Pink.
D. D. ließ sich Zeit. Sie nahm den Raum in Augenschein und blieb vor ein paar körnigen Fotos stehen, die gerahmt auf dem Kaminsims standen, Bilder eines kleinen Mädchens in chronologischer Abfolge: kurz nach der Geburt, mit der ersten festen Mahlzeit beschäftigt, bei ersten Gehversuchen und auf dem ersten Dreirädchen, mal mit der Mutter abgelichtet, mal mit dem Vater oder beiden. Fotos anderer Familienmitglieder, von Eltern, Tanten oder Onkeln, waren nicht zu sehen.
Eines der Fotos zeigte die kleine Ree im Clinch mit einer sehr duldsamen orangefarbenen Katze, vermutlich Mr Smith.
D. D. trat vor den Kinderschreibtisch und sah ein halbfertiges Bild darauf liegen, Aschenputtel mit zwei Mäusen. Ganz normal, dachte D. D. Gewöhnliche Spielsachen, gewöhnliche Gebrauchsgegenstände, gewöhnliche Möbel für eine Familie in einem gewöhnlichen Haus in South Boston.
Nur hatte sie es in diesem Fall eben nicht mit einer gewöhnlichen Familie zu tun, und darum war sie hier.
Noch einmal ging sie durch den Raum und versuchte, sich ein Bild von dem Vater zu machen, ohne ihn direkt anzusehen. Die meisten Männer wären in seiner Situation vollkommen aufgelöst. Eine verschwundene Ehefrau. Polizisten im Haus, die sich im Beisein der vierjährigenTochter über Privates hermachten und persönliche Fotos in die Hand nahmen.
Aber von ihm kam nichts. Nicht das Geringste.
Es schien fast, als wäre er gar nicht anwesend.
Schließlich richtete sie dann doch den Blick auf ihn. Jason Jones saß auf dem Sofa. Er hatte die Arme um seine Tochter geschlungen und starrte auf den leeren Fernsehbildschirm. Von nahem betrachtet, entsprach er voll und ganz der Beschreibung Millers. Dichtes strubbliges Haar, Dreitagebart, kräftige Brust und Schultern, die das einfache blaue Oberhemd gut ausfüllten. Sexappeal, väterliche Fürsorglichkeit und mysteriöse Jungenhaftigkeit in einem. Der Traum jeder Nachrichtensprecherin, und Miller hatte recht – wenn sie Sandra Jones nicht fanden, bevor die Presse Wind von der Sache bekam, saßen sie tief in der Scheiße.
D. D. schob einen der Holzstühle vor das Sofa und nahm darauf Platz. Miller hatte sich zurückgezogen. Zwar hätten zwei Cops den zurückhaltenden Gatten besser unter Druck setzen können, aber für das eingeschüchterte Kind war es besser, wenn sie allein mit ihm sprach.
Als Jason Jones endlich den Blick auf sie richtete, wurde ihr plötzlich flau.
Seine Augen waren ohne jeden Ausdruck. Ihr war, als starrte sie in Flecken einer sternlosen Nacht. Vergleichbares hatte sie bislang nur zweimal erlebt. Das erste Mal beim Verhör eines Psychopathen, der, weil geschäftlich gescheitert, seinen Partner und dessen gesamte Familie mit einer Armbrust getötet hatte. Das zweite Mal beimVerhör einer siebenundzwanzigjährigen Portugiesin, die fünfzehn Jahre lang von einem reichen Ehepaar in deren vornehmer Bostoner Villa als Sexsklavin gehalten worden war. Wenig später hatte sie sich auf dem Storrow Drive vor ein Auto geworfen. Laut Zeugenaussage, ohne zu zögern. War einfach vor die Räder eines Toyota Highlander gelaufen.
«Ich will meinen Kater!», sagte Ree. Sie hatte sich von ihrem Vater gelöst und war ein wenig von ihm abgerückt.
«Wann hast du Mr Smith das letzte Mal gesehen?», fragte D. D.
«Gestern Abend. Als ich schlafen gegangen bin. Mr Smith liegt immer bei mir im Bett. In meinem Zimmer ist er am liebsten.»
D. D. lächelte. «Mir gefällt dein Zimmer auch. All die Blumen und hübschen Schmetterlinge. Hast du geholfen, sie aufzumalen?»
«Nein, das kann ich nicht so gut. Das haben Mommy und Daddy gemacht. Ich bin ja erst vier Jahre und drei Viertel.» Ree warf sich in die Brust. «Ich bin jetzt ein großes Mädchen, und zu meinem letzten Geburtstag habe ich ein großes Mädchenzimmer gekriegt.»
«Du bist erst vier? Kaum zu glauben, ich hätte dich auf älter geschätzt. Was gibt man dir zu essen,
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