Ohne jede Spur
wäre nichts. Abends servierte uns Mama eine schön zubereitete Mahlzeit, die immer damit endete, dass sie uns mit Hühnerkeulen oder, schlimmer noch, mit Gläsern aus Bleikristall bewarf. Vater brachte sie dann in ihr Schlafzimmer, danach zu Bett und machte ihr Tee mit einem guten Schuss Gin.
«Du weißt, wie sie ist», sagte er oft wie zu ihrer und seiner Entschuldigung. Den Rest des Abends verbrachten wir dann meist lesend im Wohnzimmer und taten beide so, als hörten wir es nicht, wenn sie lallend durchs Haus schrie:
«Ich weiß was, was du nicht weißt. Ich weiß was, was du nicht weißt …»
Als meine Mutter starb, stellte ich nicht mehr so viele Fragen. Ich dachte, der Krieg wäre endlich vorüber, wir, mein Vater und ich, wären frei und könnten von nun an glücklich und zufrieden sein bis an unser Lebensende.
Eine Woche nach ihrer Beerdigung rodete ich Mutters preisgekrönte Rosenbüsche und zerkleinerte sie im Häcksler. Mein Vater hat über die verdammten Blumen mehr Tränen vergossen als jemals über mich.
Im Hinblick auf die wahre Natur von Familien wurden mir allmählich ein paar Dinge klar.
Es konnte wohl, wie ich rückblickend glaube, gar nicht anders kommen, als dass ich schwanger wurde, einen Fremden heiratete und in einen Bundesstaat auswanderte, wo
das R nicht gerollt wurde. Ich war bislang keinen einzigen Tag allein gewesen und fing, als ich nun auf eigenen Beinen stand, unwillkürlich damit an, nachzubilden, wovon ich etwas zu verstehen glaubte: eine Familie.
Vor den Geburtswehen hatte ich höllische Angst. Auch nach neun Monaten Schwangerschaft war ich dazu noch nicht bereit. Die Tinte auf der Heiratsurkunde war kaum getrocknet. Wir richteten uns in unserem neuen Zuhause ein, einem winzigen Landhaus, das locker ins Wohnzimmer meiner Eltern gepasst hätte. Noch konnte ich keine Mom sein. Ich hatte noch kein Kinderbettchen angeschafft, geschweige denn den Elternratgeber durchgelesen.
Ich wusste viel zu wenig. Ich war für diese Aufgabe nicht geschaffen.
Ich weiß noch, wie ich mich zum Auto gequält und geglaubt habe, die preisgekrönten Rosen meiner Mutter riechen zu können. Ich warf mich auf den Rasen. Jason tätschelte meinen Rücken und versuchte, mir mit seiner ruhigen, beherrschten Stimme Mut zuzusprechen.
Er packte meine Tasche in den Kofferraum und half mir auf den Beifahrersitz.
«Tief durchatmen», sagte er immer und immer wieder. «Tief durchatmen, Sandy. Tief durchatmen.»
Im Kreißsaal hielt mein tapferer Ehemann den Eimer, als ich mich erbrach. Er stützte mich, als ich ächzend und keuchend in die Geburtswanne stieg. Er lieh mir seinen Arm, den ich mit meinen Fingernägeln blutig kratzte, als ich aus meinem Leib herauspresste, was mir vorkam wie die dickste Bowlingkugel der Welt.
Die Schwestern waren voller Bewunderung für ihn,
und ich erinnere mich, meiner Mama aus vollem Herzen recht gegeben zu haben – die Welt war eine Schlangengrube. Wenn ich nur hätte aufstehen können, wenn dieser entsetzliche Schmerz nur aufgehört hätte.
Und dann … Endlich.
Meine Tochter Clarissa Jane Jones rutschte in die Welt und verkündete ihre Ankunft mit kehligem Protestgeschrei. Ich weiß noch, wie heiß und klebrig sich der schrumpelige kleine Körper anfühlte, als er mir auf die Brust gelegt wurde. Ich weiß noch, wie der winzig kleine Mund, such such such, umherirrte und sich schließlich anflanschte. Ich weiß noch, wie unbeschreiblich es war, sie zu stillen, während mir die Tränen übers Gesicht liefen.
Ich spürte, wie Jason uns beobachtete. Er stand ein paar Schritte abseits, die Hände in den Taschen und wie immer undurchschaubar. Und da wurde mir klar: Ich hatte ihn geheiratet, um meinem Vater zu entfliehen. Machte uns das zur Familie?
Mein Mann hat mich geheiratet, weil er ein Kind von mir wollte. Machte uns das zur Familie?
Clarissa ist unsere Tochter, weil sie in dieses Elend hineingeboren wurde. Machte uns das zur Familie?
Mag sein, dass man einfach irgendwo anfangen muss.
Ich reichte ihm meine Hand. Jason kam näher. Langsam, sehr langsam streckte er einen Finger aus und streichelte Clarissas Wange.
«Ich werde für euch sorgen», murmelte er. «Ihr werdet es gut haben, versprochen, versprochen, versprochen.»
Dann nahm er meine Hand, und ich spürte die wahre Kraft seiner Empfindungen, die dunkle Flut all dessen,
was er zwar nie aussprechen würde, unter der Oberfläche aber doch zu erahnen war.
Er küsste mich. Clarissa lag zwischen uns,
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