Ohne jede Spur
wusste er nicht. Das hatte er nie herausgefunden. Doch es reichte ihm, dass sie ihn für eine Weile gebraucht und auch begehrt hatte.
Sie hat mich verlassen
, war sein erster Gedanke um drei in der Früh, als er im dunklen Wohnzimmer saß. Er hatte sich von dem Urlaub im Februar Besserung erhofft, doch er war ein Desaster gewesen. Wahrscheinlich hatte ihn Sandy auch deswegen verlassen.
Doch gleich darauf verwarf er diesen Gedanken wieder. Gut möglich, dass Sandy der Ehe nur halbherzig zugestimmt hatte, aber was Ree betraf, war sie ganz und gar nicht halbherzig. Wenn sie aus freien Stücken gegangen wäre, hätte sie ihre Tochter mitgenommen und auch ihre Handtasche nicht vergessen. Dass dem nicht so war, konnte nur bedeuten: Sandy war nicht aus freien Stücken gegangen. Irgendetwas war passiert, hier, in Jasons eigenem Haus, während die Tochter oben in ihrem Bett lag und schlief. Und er hatte keine Ahnung, was das sein konnte.
Jason war ein reservierter Mann, eher nüchtern als gefühlvoll, zurückhaltend, was Mutmaßungen anging. Das machte ihn zu einem guten Reporter. Er verstand sich ausgezeichnet darauf, aus einer unüberschaubaren Fülle von Daten genau das Goldkörnchen an Informationen herauszudestillieren, das den Zusammenhang stiftete. Er ließ sich nicht beirren von Wut, Entsetzen oder Trauer.Er hatte keine vorgefassten Meinungen über Bostons Bürger oder die Menschheit im Allgemeinen.
Jason war immer auf das Schlimmste gefasst. Und so versuchte er ständig, sich zu wappnen. Vielleicht war er ein wenig naiv, aber er hatte sich immer eingeredet, seine Familie schützen zu können, wenn er denn nur genug Wissen und Erfahrung sammelte.
Aber nun saß er da, konfrontiert mit quälenden Rätseln, und spürte, wie ihm die Kontrolle entglitt.
Die Polizei war vor fast sechs Stunden abgezogen, nur noch ein einziger Beamter, gegen fünf für den abgelösten Kollegen eingesetzt, wartete draußen in seinem Wagen. Die Polizei den ganzen Vormittag über im Haus zu haben, war für Jason kaum auszuhalten gewesen. Jetzt fand er ihre Abwesenheit noch unerträglicher. Was unternahmen die Detectives? Was ging im Kopf von Sergeant D. D. Warren vor? Hatte sie seinen Köder geschluckt und den Sexualstraftäter in der Nachbarschaft festgenommen, oder war er, Jason, immer noch der Hauptverdächtige?
Gab es schon einen Beschlagnahmebeschluss für seinen Computer? Konnten sie ihn aus dem Haus holen und in Gewahrsam nehmen? Welche Beweise brauchten sie für einen solchen Schritt?
Und es drängte sich ihm eine noch schlimmere Frage auf. Was würde mit Ree geschehen, wenn sie ihn festnähmen?
Jason kreiste ruhelos um den kleinen Tisch. Ihm war bereits schwindelig, aber er konnte nicht stehen bleiben. Er hatte keine Verwandten in der Stadt, keine engerenFreunde. Würde sich die Polizei mit Sandys Vater Max in Verbindung setzen, Ree nach Georgia bringen oder ihn herkommen lassen?
Und was, wenn Max zur Stelle wäre? Was würde er sagen oder tun können?
Mit jeder Stunde, die Sandy verschollen blieb, verschärfte sich die Lage. Die Polizei würde härtere Bandagen anlegen, und irgendwann, es ließe sich nicht vermeiden, käme die Presse dahinter. Seine eigenen Kollegen würden über Jason herfallen und den Fall an die Öffentlichkeit zerren. Jason Jones, der Ehemann der verschwundenen Frau, im Fokus der laufenden Ermittlungen.
Früher oder später würde jemand sein Bild erkennen und Zusammenhänge aufdecken.
Eher früher als später, wenn die Polizei Zugriff auf seinen Computer hatte.
Jason hastete so schnell um den Tisch herum, dass er mit dem Knie gegen den Rand der Waschmaschine prallte. Der Schmerz ließ ihn endlich innehalten. Vor seinen Augen drehte sich alles. Mit beiden Händen auf der Maschine abgestützt, rang er nach Luft.
Als er wieder klar sehen konnte, fiel sein Blick auf eine Spinne, eine kleine braune Gartenspinne, die unmittelbar vor seinen Augen an ihrem Faden hing.
Jason sprang zurück, trat mit dem Schienbein gegen die Tischkante und schrie auf. Nicht vor Schmerzen, die machten ihm nichts aus. Er konnte fast alles ertragen, nur den Anblick dieser Spinne nicht.
Einen Moment lang wurde ihm alles zu viel. Einen Moment lang hatte er sich von dieser winzigen Spinnezurückversetzt gesehen in einen Raum, der ewig dunkel war, abgesehen von den Augen, die aus den vielen Terrarien ringsum an den Wänden leuchteten, an einen Ort, durch den immerzu Schreie zu gellen schienen, der nach Tod und Verwesung
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