Ohne jede Spur
sie zum Beispiel fragen, was sie im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört hatten. Wenn auch aus anderer Perspektive als Erwachsene, beobachteten Kinder überaus genau, und aus dem, woran sie sich erinnerten, ließen sich Hinweise herausfiltern, die häufig glaubwürdiger waren als die Auskünfte erwachsener Zeugen.
«Erzähl mir von dem Abend mit deiner Mutter, Ree. Wer war zu Hause?»
«Ich und Mommy.»
«Sonst niemand? Weder Mr Smith noch Lil’ Bunny, Daddy oder sonst wer?»
Diese Formulierung gehörte ebenfalls zum Standardkatalog der Vernehmungstechnik. Eine Frage, die mehrereMöglichkeiten aufzählte, endete immer mit «sonst wer», «sonst etwas» oder «sonst wo».
«Mr Smith», antwortete Ree. «Und Lil’ Bunny. Daddy war nicht da. Er arbeitet doch nachts.»
«War vielleicht sonst noch jemand bei euch?»
Ree krauste die Stirn. «Am Abend bin ich mit Mommy immer allein. Bei uns ist dann Frauenschicht.»
D. D. machte sich eine Notiz. «Was macht ihr, wenn Frauenschicht ist?», fragte Marianne.
«Wir puzzeln. Ich liebe Puzzles.»
«Was denn für Puzzles?»
«Och, zuerst haben wir das Schmetterlingsbild gemacht und dann das Prinzessinnenbild. Dafür brauchen wir den
ganzen
Teppich. Aber es ist nicht fertig geworden, weil Mr Smith immer drübergelaufen ist. Ich bin wütend geworden, und Mommy hatte dann auch keine Lust mehr.»
«Magst du Musik, Ree?»
«Und wie!»
«Habt ihr beim Puzzeln auch Musik gehört? Lief vielleicht der Fernseher, das Radio oder sonst etwas?»
Ree schüttelte den Kopf. «Ich tanze unheimlich gern zu Tom Petty», sagte sie beiläufig. «Aber beim Puzzeln muss es still sein.» Sie verzog das Gesicht und wackelte wahrscheinlich in Nachahmung ihrer Mutter mit dem ausgestreckten Zeigefinger. «Kinder brauchen Ruhe. Nur dann kann das Gehirn wachsen.»
«Verstehe.» Marianne zeigte sich beeindruckt. «Ihr habt also im Stillen gepuzzelt. Und danach?»
«Haben wir gegessen.»
«Aha. Was isst du denn besonders gern?»
«Käsemakkaroni. Und Gummiwürmer. Ich liebe Gummiwürmer, aber die gibt’s nur zum Nachtisch.»
«Stimmt», sagte Marianne. «Wenn man die schon vorher isst, hat man ja keinen Hunger mehr. Also, was haben du und deine Mommy zu Abend gegessen?»
«Käsemakkaroni», antwortete Ree geradeheraus. «Dazu kleine Stücke Putenfleisch und Apfelscheiben. Pute mag ich nicht besonders, aber Mommy meint, ich brauche Proteine, damit ich groß und stark werde. Also gibt’s zu den Makkaroni immer auch Fleisch.»
D. D. notierte, was sie hörte, und staunte nicht schlecht über Rees detaillierte Erinnerung und deren Übereinstimmung mit ihrer ersten Aussage am Donnerstagmorgen. Zuverlässige Zeugen machten jeden Detective glücklich. Rees Schilderung des Abends war so glaubwürdig, dass auch das, was sie über Vorkommnisse in der Nacht sagen konnte, vor der Jury Bestand haben würde. Die vierjährige Clarissa Jones eignete sich als Zeugin besser als achtzig Prozent der Erwachsenen, die D. D. vernommen hatte.
«Was war nach dem Essen?», fragte Marianne.
«Badezeit!», trällerte Ree.
«Badezeit?»
«Ja. Ich und Mommy duschen zusammen. Willst du wissen, wer alles unter der Dusche war?» Ree hatte die Fragemuster offenbar durchschaut.
«Gern.»
«Mr Smith hat nicht mit uns geduscht, denn er hasst Wasser, und auch Lil’ Bunny nicht. Die nimmt ihr Badin der Waschmaschine. Aber Prinzessin Duckie und Mariposa-Barbie und die Inselprinzessin-Barbie waren bei uns. Ich darf immer nur drei Puppen waschen, weil wir mit dem heißen Wasser sparsam umgehen müssen.»
«Verstehe. Was hat Mommy gemacht?»
«Haare gewaschen, zuerst ihre, dann meine. Dann hat sie mit mir geschimpft, weil ich so viel Seife gebraucht habe.»
Marianne blinzelte wieder mit den Augen.
«Ich spiel so gern mit Seifenschaum», erklärte Ree. «Aber Mommy sagt, Seife kostet viel Geld, man darf sie nicht verplempern, und deshalb tut sie immer nur ein bisschen Seife in den Becher. Ich brauche aber mehr, weil meine Barbies lange Haare haben.»
«Ree, wenn ich behaupte, ich hätte blaue Haare, sage ich dann die Wahrheit, oder wäre das gelogen?»
Ree grinste und zeigte damit, dass sie das Spiel erkannte. «Das wäre gelogen, und im Zauberzimmer darf man nur die Wahrheit sagen.»
«Sehr gut, Ree. Große Klasse. Ihr wart also unter der Dusche, du und deine Mommy. Und du hast viel Seife gebraucht. Wie fühlst du dich unter der Dusche?»
Ree krauste die Stirn, aber dann schien ihr ein Licht
Weitere Kostenlose Bücher