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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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löste drei Fotos aus einer Büroklammer in ihrem Tagebuch und legte sie nebeneinander vor mir auf den Tisch. Zusammen ergaben sie einen weiten Blick auf ihren Hof.
    Es ist schade, dass du uns nie besuchen konntest. Ich hätte es heute leichter, wenn du den Hof selbst gesehen hättest. Vielleicht glaubst du, die Fotos würden genügen, und ich müsste die Gegend nicht mehr beschreiben. Genau darauf hoffen meine Feinde, weil sie das Gebiet als typisch ländliches Schweden aus den Reisebroschüren hinstellen. Du sollst daraus schließen, man könne nur begeistert sein, jede andere Reaktion sei so bizarr, dass man schon krank und paranoid sein müsste. Aber ich muss dich warnen: Sie präsentieren die Gegend ganz gezielt als malerisch, weil man Schönheit leicht mit Unschuld verwechselt.
    An der Stelle, an der diese Fotos aufgenommen wurden, ist man von einer unglaublichen Ruhe umgeben. Als stünde man auf dem Meeresgrund, nur sieht man statt eines verrosteten Schiffswracks ein altes Bauernhaus vor sich. Sogar meine eigenen Gedanken kamen mir laut vor, und manchmal hämmerte mein Herz, nur um der Stille etwas entgegenzuhalten.
    Auf den Fotos erkennt man es nicht, aber das Reetdach hat richtig gelebt, es war voller Moos und kleiner Blumen, Insekten und Vögel hatten sich dort eingenistet. Ein Dach wie aus einem Märchen in einer märchenhaften Umgebung – dieses Wort benutze ich ganz bewusst, weil es in Märchen neben wunderbaren, hellen Dingen auch Gefahren und Dunkelheit gibt.
    Von außen ist das alte Anwesen noch genauso wie vor zweihundert Jahren, als es gebaut wurde. Der einzige Hinweis auf die moderne Welt ist die Ansammlung roter Punkte in der Ferne, blitzende Rattenaugen auf der Spitze der Windräder, die im Dunkeln kaum erkennbar durch den düsteren Aprilhimmel pflügen.
    Worauf ich hinauswill, ist, dass man sich verändert, wenn einem die Einsamkeit bewusst wird. Nicht sofort, sondern nach und nach, bis man es als Normalität empfindet, von einem Tag auf den anderen zu leben, ohne den Staat über sich zu spüren, ohne von der Außenwelt aufgerieben zu werden, die einen an die Pflichten anderen gegenüber erinnert, ohne Fremden zu begegnen oder Nachbarn in der Nähe zu haben, ohne jemanden, der einem über die Schulter sieht – man ist ständig unbeobachtet. Es verändert unsere Vorstellung davon, wie wir uns benehmen sollten, was akzeptabel ist, und vor allem, womit wir davonkommen.

E S ÜBERRASCHTE MICH NICHT , wie schwermütig Mums Beschreibung klang. Von Anfang an war klar, dass ihre Rückkehr nach Schweden nicht nur pure Freude bringen würde. Mit sechzehn war sie von zu Hause fortgelaufen und immer weitergezogen, durch Deutschland, die Schweiz und Holland, hatte als Kindermädchen und Kellnerin gearbeitet, in Gästebetten und manchmal auf dem Boden geschlafen, bis sie nach England kam, wo sie meinen Dad kennenlernte. Natürlich war sie nicht zum ersten Mal zurückgekehrt, wir hatten oft in Schweden Urlaub gemacht und abgelegene Hütten auf Inseln oder an Seen gemietet. In den Städten hatten wir nie mehr als einen Tag verbracht, zum Teil wegen der Kosten, aber vor allem, weil meine Mum in den Wäldern und der Natur sein wollte. Wenn wir dort waren, dauerte es nur ein paar Tage, bis sich leere Marmeladengläser mit Wildblumen füllten und Schalen randvoll mit Beeren. Aber wir versuchten nie, irgendwelche Verwandten zu treffen.
    Mir genügte es, wenn ich meine Mum und Dad um mich hatte, doch manchmal machte es sogar mich in meiner Naivität traurig, dass keine anderen Menschen bei uns waren.
    Meine Mum nahm sich wieder ihr Tagebuch vor und suchte sichtlich frustriert die nächste Stelle.
    Ich bin nicht ganz sicher, an welchem Tag es war, etwa eine Woche nach unserer Ankunft. Zu dieser Zeit habe ich noch nicht viel aufgeschrieben. Ich habe noch nicht geahnt, dass man mir nicht glauben würde, als wäre ich ein Kind mit einer zu lebhaften Fantasie, das sich Geschichten ausdenkt, um Aufmerksamkeit zu bekommen. In den letzten Monaten habe ich viele Demütigungen ertragen, ich wurde sogar an Händen und Füßen gefesselt, aber die allerschlimmste Demütigung waren die ungläubigen Blicke, wenn ich jemandem etwas erzählt habe. Etwas zu sagen, gehört zu werden und keinen Glauben zu finden.
    In unserer ersten Woche auf dem Hof musste man sich eher um Chris’ Geisteszustand Sorgen machen, nicht um meinen. Er hatte sein ganzes Leben in der Stadt verbracht, und es fiel ihm schwer, sich einzuleben. Der April war

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