Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
viel kälter, als wir erwartet hätten. Die Bauern nennen diese Zeit, in der sich der Winter hält und der Frühling nicht durchkommt, die eisernen Nächte. Der Boden ist noch gefroren. Die Tage sind rau und kurz, die Nächte bitterkalt und lang. Chris wurde depressiv. Mir kam sein Zustand wie ein Vorwurf vor, als wäre ich schuld daran, weil ich ihn in ein Haus ohne moderne Annehmlichkeiten geholt hatte, fort von allem, was er kannte, weil ich Schwedin bin und der Hof in Schweden liegt. Tatsächlich hatten wir uns beide dafür entschieden, es war ein verzweifelter Versuch, die Lage zu retten. Uns blieb keine andere Wahl. Wir konnten dort bleiben oder nirgends. Hätten wir den Hof verkauft, hätten wir in England zwei, drei Jahre Miete bezahlen können, danach wäre das Geld weg gewesen.
Eines Abends konnte ich sein Elend nicht mehr ertragen. Das Bauernhaus ist nicht groß – es hat niedrige Decken, dicke Wände, kleine Zimmer –, und wir hockten die ganze Zeit zusammen, weil uns das Wetter im Haus festhielt. Wir hatten keine Zentralheizung. In der Küche stand ein schmiedeeiserner Ofen, um Brot zu backen, Essen zu kochen und Wasser zu erhitzen – das Herz des Hauses. Wenn Chris nicht schlief, saß er mit ausgestreckten Händen davor wie ein armer Bauer. Es machte mich wütend, ich schrie ihn an, er solle nicht so ein blöder Griesgram sein, dann rannte ich raus und knallte die Tür hinter mir zu …
I CH HATTE WOHL SICHTLICH auf die Vorstellung reagiert, wie meine Mum meinen Dad anschrie.
Schau nicht so überrascht, Daniel. Natürlich gibt es zwischen deinem Vater und mir auch mal Streit, nicht oft, nicht regelmäßig, aber uns gehen wie allen anderen Paaren auf der Welt auch mal die Nerven durch. Wir haben nur darauf geachtet, dass du nie etwas mitbekommst. Du warst so ein sensibles Kind. Wenn wir mal lauter geworden sind, warst du stundenlang ganz aufgewühlt. Du konntest nicht schlafen und nicht essen. Einmal habe ich beim Frühstück auf den Tisch geschlagen. Du hast mich nachgemacht! Du hast dir deine kleinen Fäuste gegen den Kopf gehämmert. Wir mussten deine Arme festhalten, damit du aufhörst. Also haben wir schnell gelernt, uns zu beherrschen. Wir haben Streitigkeiten hinausgeschoben, sie gesammelt und sie ausgefochten, wenn du nicht in der Nähe warst.
M IT EIN PAAR SÄTZEN hatte meine Mum mein gesamtes Bild unseres Familienlebens weggewischt, wie ein Erwachsener, der aus Versehen den Klötzchenturm seines Kindes umwirft. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich mich so benommen hatte, dass ich mir gegen den Kopf geschlagen hatte, dass ich mich geweigert hatte zu essen oder zu schlafen und von Gefühlsausbrüchen so verstört war. Ich hatte gedacht, meine Eltern wären von sich aus so friedlich gewesen. In Wahrheit hatten sie mich beschützen müssen, nicht, weil sie es für das Beste hielten, sondern weil ich nach Harmonie verlangte, als bräuchte ich sie zum Leben genau wie Essen oder Wärme. Unser friedliches Zuhause war genauso durch meine Schwäche wie durch ihre Stärke entstanden. Meine Mum nahm meine Hand:
»Vielleicht hätte ich nicht zu dir kommen sollen.«
Sogar jetzt hatte sie noch Angst, ich könnte nicht damit umgehen. Und ihre Zweifel an mir waren nicht unbegründet. Noch vor ein paar Minuten hätte ich sie am liebsten gebeten, mir nichts zu erzählen.
»Mum, ich will es hören – ich kann das.«
Um mein Unwohlsein zu überspielen, wollte ich sie ermutigen:
»Du hast Dad angeschrien. Du bist gegangen und hast die Tür zugeknallt. Was ist dann passiert?«
Es war ein geschickter Zug, sie wieder auf die Ereignisse zu bringen. Sie wollte so dringend über ihre Vorwürfe reden, dass ich richtig sehen konnte, wie ihre Zweifel an mir verflogen, als sie wieder in den Fluss der Geschichte eintauchte. Sie setzte sich so nah neben mich, dass sich unsere Knie berührten, und erzählte mit leiser Stimme, als wollte sie mich in eine Verschwörung einweihen.
Ich lief hinunter zum Wasser. Der Fluss war ein besonders wichtiger Teil unseres Grundstücks. Ein bisschen Geld brauchten wir nämlich immer noch zum Überleben. Wir produzierten keinen eigenen Strom, und jedes Jahr müssen Grundstückssteuern bezahlt werden. Unsere Lösung waren die Lachse. Im Sommer konnten wir sie essen, räuchern und für den Winter konservieren. Einige hätten wir auch an Fischhändler verkaufen können, aber ich dachte, wir könnten noch mehr daraus machen. Wir wollten die Nebengebäude herrichten –
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