Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
inspiriert, die ich dir früher vorgelesen habe, die Geschichten von riesigen Menschenfressern mit pilzartigen Warzen auf den verwachsenen Nasen und Bäuchen wie Felsbrocken. Mit ihren starken Armen können sie Menschen in Stücke reißen und ihre Knochen zerbrechen, um sich mit den Splittern den Knorpel aus den schartigen Zähnen zu pulen. Solche Monster können sich nur in diesen riesigen Wäldern verstecken und dich mit ihren gelben Augen beobachten.
Der letzte Abschnitt der verlassenen Straße führte zwischen trostlosen braunen Feldern hindurch. Der Schnee war schon geschmolzen, aber die Erde noch gefroren und schartig. Nirgends war Leben zu sehen, keine bestellten Felder, keine Traktoren, keine Bauern. Reglose Erde – doch zugleich rasten die Wolken unglaublich schnell über uns hinweg, als wäre die Sonne wie ein Stöpsel aus dem Horizont gezogen worden und die Wolken würden mit dem letzten Licht in den Abfluss gesogen. Ich konnte den Blick nicht davon losreißen. Mir wurde bald schwindlig, alles drehte sich um mich. Ich bat Chris anzuhalten, weil mir schlecht war. Er fuhr weiter, er sagte, wir seien gleich da und es sei unsinnig, jetzt anzuhalten. Ich bat ihn noch einmal, schon weniger höflich, und er wiederholte nur, wir seien schon ganz in der Nähe, bis ich schließlich mit den Fäusten auf das Armaturenbrett schlug und verlangte, dass er augenblicklich anhielt!
Er sah mich genauso an wie du jetzt. Aber er gehorchte. Ich sprang aus dem Auto und übergab mich ins Gras am Straßenrand, verärgert über mich selbst und besorgt, dass ich uns die Ankunft verdorben hatte, die eigentlich ein fröhlicher Moment hätte werden sollen. Mir war so übel, dass ich nicht wieder einsteigen wollte, deshalb bat ich Chris, allein weiterzufahren, um das letzte Stück zu laufen. Er weigerte sich, er meinte, wir sollten zusammen ankommen. Das sei ein wichtiger symbolischer Moment. Also einigten wir uns, dass er im Schneckentempo weiterfuhr und ich vorging. Wie bei einer Beerdigung lief ich den kurzen Weg zu unserem neuen Zuhause, zu unserem Hof, direkt vor dem Wagen her – ein lächerlicher Anblick, das stimmt, aber wie hätten wir es sonst lösen sollen, wenn ich laufen und er den Wagen fahren musste und wir zusammen ankommen wollten?
Als Chris den Ärzten in der schwedischen Anstalt mit Krokodilstränen davon vorjammerte, hat er es als Beweis dafür hingestellt, ich sei nicht zurechnungsfähig. Würde er seine Version der Geschichte erzählen, hätte er sicher erst damit angefangen und diesen seltsamen bewegten Himmel gar nicht erwähnt. Stattdessen würde er mich als seltsam und labil beschreiben, als hätte ich von Anfang an auf der Kippe gestanden. Wenn er das sagt, klingt er ganz gequält vor gespielter Traurigkeit. Wer hätte gedacht, dass er so gut schauspielern kann? Egal, was er jetzt behauptet, in diesem Moment hat er verstanden, was es in mir ausgelöst hat, nach fünfzig Jahren zurückzukehren, und dass es ein ganz außergewöhnliches Gefühl war, genauso außergewöhnlich wie der Himmel, der mich zu Hause willkommen hieß.
Vor dem Hof hielt er mitten auf der Straße an und stieg aus. Er nahm meine Hand. Die Schwelle zu unserem Hof überquerten wir zusammen, als Partner, als liebevolles Paar, das zusammen ein aufregendes neues Kapitel seines Lebens aufschlägt.
A N DIESE BESCHREIBUNGEN – »schartige Zähne« und »Bäu che wie Felsbrocken« – konnte ich mich erinnern, sie stammten aus einer schwedischen Sammlung mit Trollgeschichten, die wir beide geliebt haben. Der Einband fehlte, und im ganzen Buch war nur ein Troll abgebildet, der ziemlich zu Anfang mit gefährlichen schmutzig gelben Augen aus einem tiefen Wald herausspähte. Es gab schickere Bücher über Trolle, keimfreie, kindgerechte Geschichten, aber diese zerfledderte alte Sammlung, die längst nicht mehr aufgelegt wurde und aus einem Antiquariat stammte, steckte voller schauriger Erzählungen. Es war mit Abstand das Lieblingsbuch meiner Mutter, um mir vor dem Schlafen vorzulesen, und ich hatte jede Geschichte darin oft gehört. Meine Mum hatte den Band zwischen den anderen Büchern aufbewahrt, vielleicht, weil es schon so zerlesen war und sie fürchtete, es könnte mir unter den Händen zerfallen. Während sie mich immer vor schlimmen Erfahrungen beschützen wollte, suchte sie bei Märchen gezielt verstörende Geschichten aus, als wollte sie mir zum Ausgleich in den Erzählungen geben, was sie im echten Leben von mir fernhielt.
Meine Mum
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