Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
wegbrachte. Mia hatte nicht grundlos getrunken. Ich hatte stark den Eindruck, dass sie sich Mut antrinken wollte, um jemanden zur Rede zu stellen. Ich musste ihr genug Zeit verschaffen, damit sie ihren Plan umsetzen konnte.
Behutsam nahm ich Mia beim Arm, führte sie mitten zwischen die Leute und rief alle zusammen. Aus dem Stegreif erzählte ich etwas über die Geschichte des Midsommarfests. Während alle um mich herumstanden, auch Håkan, erklärte ich, dass in dieser Nacht in Schweden die Magie besonders stark war und dass unsere Urgroßeltern um die Maistange getanzt waren und dabei auf eine reiche Ernte gehofft hatten. An dieser Stelle gab ich jedem Kind eine Blume aus meinem Handstrauß und sagte ihnen, nach alter Tradition sollten sie die Blumen unter ihr Kopfkissen legen, dann würden sie in dieser Nacht von ihren zukünftigen Geliebten träumen, von ihren späteren Ehemännern und Frauen. Die Kinder kicherten, als sie die Blumen annahmen. Wahrscheinlich haben sie mich für eine Art harmlose Hexe gehalten, aber mein seltsames Verhalten hatte einen Grund. Als ich Mia erreichte, gab ich ihr, was von meinem Strauß übrig war. Wie würde sie reagieren, nachdem ich über Geliebte und Ehemänner gesprochen hatte? Mia reckte die Blumen in die Höhe. Ich hatte recht! Fast war sie so weit, diese Leute und ihre Geheimnisse bloßzustellen. Alle starrten sie an und warteten darauf, was sie tun würde. Sie warf die Blumen hoch über ihren Kopf, wie eine Braut am Hochzeitstag. Unsere Blicke folgten dem Strauß, als er im hohen Bogen durch die Luft segelte, das Band um die Stängel verlor, die Blumen sich lösten und auseinanderfielen und es Blütenblätter regnete.
Håkan schob sich vor, packte Mias Arm und entschuldigte sich bei allen. Er passte auf, dass er sie nicht hinter sich herzerrte oder zu grob anfasste. Ohne Gegenwehr ging sie mit zu seinem glänzenden silbernen Saab. Er bugsierte sie auf den Beifahrersitz. Sie fuhr das Fenster herunter und blickte zu uns zurück. »Sag es uns!«, hätte ich ihr am liebsten zugeschrien, »sag es uns jetzt!« Als das Auto anfuhr, wehten ihr die langen dunklen wunderschönen Haare ins Gesicht und verbargen es.
Das war das letzte Mal, dass ich Mia lebend gesehen habe.
E S GAB KEINEN GUTEN GRUND , Mums Behauptung nicht zu überprüfen. Mit dem Handy konnte ich einfach den Namen »Mia Greggson« in eine Suchmaschine eingeben. Wenn jemand das Mädchen ermordet hatte, musste es darüber Zeitungsartikel gegeben haben. Bestimmt hatte der Fall in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Ich überlegte, ob ich Mum sagen sollte, was ich vorhatte. Das würde nur funktionieren, wenn sie wusste, dass es Zeitungsartikel gab. Vielleicht würde sie sogar ein paar Ausdrucke aus ihrer Tasche ziehen. Wenn es keine gab, würde sie vielleicht in Panik verfallen und zu dem Schluss kommen, dass ich ihr ohne Artikel nicht glaubte. Sie könnte weglaufen. In diesem Fall waren Offenheit und Ehrlichkeit nicht anständig, sondern riskant. Ich sagte:
»Ich sehe mal nach, ob Dads Flugzeug gelandet ist.«
Seit der Unterbrechung durch Mark war Mum unruhig. Die Wohnung war kein sicherer Ort mehr. Sie wollte sich weder setzen noch die Tasche ablegen. Sie ging auf und ab, immer schneller. Als ich das Handy nahm, sagte sie:
»Sein Flugzeug müsste schon gelandet sein.«
Ich öffnete ein zweites Browserfenster, damit ich zu den Fluginformationen von Heathrow wechseln konnte, falls meine Mum plötzlich mein Handy sehen wollte. Nach dieser Vorsichtsmaßnahme tippte ich Mias Namen ein. Meine Daumen drückten so ungeschickt auf den Tasten herum, dass ich nicht verbergen konnte, wie aufgeregt ich war. Bis jetzt war meiner Mum nicht viel entgangen. Sie kam einen Schritt näher:
»Was steht da?«
»Ich tippe noch.«
Ich fügte den Ort hinzu, an dem der Mord angeblich stattgefunden hatte, und drückte auf »Suchen«. Das Display zeigte nichts mehr an. Die Verbindung war langsam. Meine Mum war schon ganz nah. Sie streckte eine Hand nach dem Handy aus:
»Lass mich mal sehen.«
Mit einer unmerklichen Daumenbewegung schaltete ich zu dem Fenster der Flughafenseite und gab ihr das Handy. Sie starrte durchdringend auf das Display:
»Das Flugzeug ist vor zwanzig Minuten gelandet.«
Ich konnte nur hoffen, dass ihr das kleine Icon am unteren Rand für das zweite Browserfenster nicht auffiel oder egal war. Sie hatte kein Smartphone. Aber ihr Verstand war so auf jede Art von Betrug getrimmt, dass sie es sich
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