Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
Christin. Ich habe keine Ahnung, ob sie an Gott geglaubt hat, jedenfalls hatte sie die Bibel nicht mitgenommen. Beim Durchblättern fand ich weder Anmerkungen noch herausgerissene Seiten. Ich schlug die Stelle im Epheserbrief nach, die Anne-Marie in den letzten Tagen vor ihrem Selbstmord gestickt hatte. Sie war nicht unterstrichen. Unter der Bibel lag ein Tagebuch. Darin standen Termine und Hausaufgaben, aber keine Schimpftiraden und keine Anspielungen auf Sex oder Freunde oder Freundinnen oder Enttäuschungen. Kein Teenager auf der Welt führt so ein Tagebuch. Mia muss gewusst haben, dass ihr Zimmer durchsucht wird. Das Tagebuch hat sie so geschrieben, weil sie wusste, dass es gelesen wird – sie hat aufgeschrieben, was Elise und Håkan lesen sollten. Es war ein Trick, eine Ablenkung, um die schnüffelnden Eltern ruhigzustellen, und welcher Teenager fertigt eine so clevere Attrappe an, wenn er nicht eine Menge zu verbergen hat?
Ich hatte mir fest vorgenommen, höchstens eine halbe Stunde zu bleiben, doch eine halbe Stunde ist schnell vorbei, und ich hatte noch keine Beweise gefunden. Mit leeren Händen konnte ich nicht gehen. Ich beschloss zu bleiben, bis ich etwas gefunden hatte, egal, wie riskant es war! Mir fiel auf, dass ich mir den Spiegel noch nicht angesehen hatte. Er war etwas Besonderes, keine Antiquität, aber auch nicht aus einem Möbelgeschäft, sondern echte Handarbeit, selbst gemacht und anspruchsvoll – ein gewundener Holzrahmen um einen ovalen Spiegel. Aus der Nähe fiel mir auf, dass der Spiegel nicht festgeklebt war, oben und unten war er nur mit Stahlspangen am Rahmen befestigt. Man konnte sie wie Schlüssel herumdrehen, dann fiel der Spiegel aus dem Rahmen. Ich sprang vor, damit er nicht auf dem Boden zerbrach. Hinter dem Spiegel war ein tiefer Hohlraum ins Holz geschnitzt. Dieser ungewöhnliche Spiegel sollte noch einen zweiten Zweck erfüllen. Wer immer ihn angefertigt hatte, hatte extra für Mia ein Versteck eingebaut. Und darin habe ich das hier gefunden.
M EINE MUM GAB MIR die zerfledderten Überreste eines kleinen Tagebuchs. Der Einband war noch vorhanden, aber alle Seiten waren herausgerissen. Zum ersten Mal berührte mich eines der Beweisstücke meiner Mum wirklich, es war, als könnte man die ihm zugefügte Gewalt noch spüren.
Stell dir vor, wie jemand mit starken Händen die Seiten herausreißt, die Luft voll von Wörtern. Mit Feuer hätte er diesen Beweis viel besser vernichten können, er hätte ihn auch in den Elchfluss werfen können. Das war kein vernunftgesteuerter Versuch, etwas zu verbergen. Das war eine primitive Reaktion auf das hier Geschriebene, ein Ausdruck von tiefem Hass und vielleicht ein Hinweis auf ein Verbrechen, vielleicht auf eines, das schon begangen wurde.
Sieh es dir selbst an.
Es ist fast nichts mehr übrig, kein ganzer Eintrag, nur noch Schnipsel am Buchrücken, Papierzähne mit Wortfetzen. Ich habe genau fünfundfünfzig vereinzelte Buchstaben und nur drei ganze Wörter gefunden.
Hans , das heißt auf Schwedisch »sein« oder »seine«.
Rök, das heißt auf Schwedisch »Rauch«, und überleg bitte, wer raucht und wer nicht.
Und räd – das ist kein ganzes Wort, es hört genau an der Reißkante auf, und dieses Wort gibt es nicht; ich glaube, ein zweites »d« wurde abgerissen und es hieß rädd – das heißt auf Schwedisch »verängstigt«.
Der Fund war zu wichtig, um ihn zurückzulegen. Aber die Reste von Mias Tagebuch zu stehlen, war eine gefährliche Provokation. Es war ein deutliches Zeichen, dass ich den Schuldigen suchte und alles daransetzen würde, um die Wahrheit herauszufinden. Wenn Håkan nach Hause kam und merkte, dass der wichtigste Beweis dafür fehlte, dass Mia nicht weggelaufen war, würde er seinen ganzen Hof absuchen und belastende Hinweise verbrennen. Deshalb war das hier meine einzige Chance, um Beweise zu sammeln. Ich konnte noch nicht gehen. Als ich in Mias Zimmer stand und überlegte, wo ich als Nächstes suchen sollte, fiel mein Blick auf die Felder und diesen Erdhügel, den Bunker, in dem Håkan seine obszönen Trolle schnitzte und in dem es diese zweite versperrte Tür gab. Am nächsten Tag würde der Schuppen vielleicht leergeräumt oder eingeebnet sein. Ich musste sofort etwas tun.
Mit den Resten von Mias Tagebuch in meiner Tasche fand ich im Flur ein handgeschnitztes Schlüsselschränkchen. Auf Bauernhöfen gibt es immer reichlich Schlüssel, schon für die verschiedenen Scheunen und Traktoren. Ich sah mir jeden
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