Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
bestätigen, dass er Behörden immer gehasst hat, dass er bei Ärzten vorsichtig ist und der Polizei noch nie getraut hat. Wäre er unschuldig gewesen, hätte er allein nach mir gesucht. Wie hoch stehen die Chancen, dass er die Polizei angerufen hätte, damit sie einen richtigen Suchtrupp organisiert? Bei null. Weder war ich verletzt noch hatte ich mich verlaufen – ich war eine erwachsene Frau und brauchte niemanden, der mich wie ein verirrtes Kind aus dem Wald herausführt. Um wieder Herrin der Lage zu werden und zu beweisen, dass ich bei Verstand war, blieb mir nur eine Möglichkeit. Ich musste allein zu unserem Hof zurückfinden. Dann würde ich ihnen zeigen, dass ich nicht komplett durchgedreht war. Es gibt dafür einen juristischen Fachausdruck, den ich in den letzten Wochen so oft gehört habe, eine lateinische Phrase – non compos mentis – nicht Herr seiner Sinne, nicht zurechnungsfähig. Wenn sie mich allein und verfroren irgendwo im Wald gefunden hätten, hätten sie behauptet, ich sei nicht zurechnungsfähig. Ich hatte mich nicht verlaufen, ich war compos mentis , und wenn ich erst einmal den Elchfluss gefunden hatte, konnte ich seinem rauschenden Wasser einfach nach Hause folgen.
Als ich unseren Hof erreichte, war es Mitternacht. In der Auffahrt standen mehrere Autos. Meine Feinde warteten auf mich. Ich erkannte Håkans Saab, und da stand das Auto von Stellan, dem Kommissar. Aber auf das letzte Auto konnte ich mir keinen Reim machen. Es war teuer und protzig. Ich war in der Unterzahl. Einen Moment überlegte ich wegzulaufen, doch der Gedanke war kindisch. Ich hatte keinen Plan. Ich hatte weder meine Tasche noch mein Tagebuch bei mir. Und vor allem konnte ich Mia nicht einfach aufgeben. Wenn ich weglief, würden meine Feinde das nur als weiteren Beweis verwenden. Sie würden behaupten, ich wäre unberechenbar und unvernünftig. Als ich das Haus betrat, rechnete ich schon mit einem Hinterhalt. Trotzdem war ich bei Weitem nicht darauf gefasst, was dann geschah.
Das geheimnisvolle, teure Auto gehörte Doktor Olle Norling, dem bekannten Arzt. Vielleicht waren wir uns mal auf Partys begegnet, aber da hatte er mich seiner Aufmerksamkeit noch nicht für würdig befunden – an diesem Tag sprachen wir zum ersten Mal miteinander. Chris stand in der Ecke, mit einem Pflaster auf der Augenbraue. Ich hatte ihn wohl verletzt, als ich fliehen wollte und ihm gegen den Kopf getreten habe. Jetzt zählte es als ein Beweis gegen mich, zusammen mit den Birkenblättern. Ich fragte, was los sei, nicht aggressiv. Ich musste ruhig und gefasst sein, ich durfte nicht emotional werden. Damit würden mich diese Männer überführen. Sie würden versuchen, mich zu provozieren, und dann behaupten, ich wäre hysterisch. Statt auf eine Antwort zu warten, erzählte ich von unserem albernen kleinen Streit im Wald. Ich hätte mich geärgert und wäre zu Fuß nach Hause gelaufen. Das wäre kurz gesagt die ganze Geschichte, das wäre doch nichts Besonderes, warum war dann die Polizei da, warum suchten sie nicht nach Mia, warum moderierte der große Doktor Norling nicht seine Radiosendung, und warum leitete der mächtige Håkan nicht sein Geschäftsimperium, warum waren sie alle hier, auf unserem bescheidenen Hof, und so ernst wie bei einer Totenwache?
Norlings erste Worte lauteten:
»Ich mache mir Sorgen um Sie, Tilde.«
Er sprach perfekt Englisch. Seine Stimme war ganz sanft, weich wie ein Kissen – sogar, wenn er einem Vorwürfe machte, hätte man den Kopf aufstützen und einschlafen können. Er sagte meinen Namen, als wäre ich eine enge Freundin. Kein Wunder, dass sein Publikum ihn liebt. Mit seiner Stimme konnte er echte Zuneigung perfekt nachahmen. Ich musste mich kneifen, um es nicht zu glauben. Aber es war eine Lüge, der Trick eines alten Schaustellers.
Als ich sah, wie meine Feinde die Reihen schlossen, machte ich mir klar, welche Macht sie im Rücken hatten. Sie waren Stützen der Gesellschaft. Und sie hatten einen Insider, Chris, einen Verbündeten, der sie mit reichlich persönlichen Informationen versorgen konnte, vielleicht hatte er das schon, vielleicht hatte er ihnen von Freja erzählt. Der Gedanke machte mir schreckliche Angst. Aber am meisten überraschte mich, dass die verrostete Stahlkassette mitten im Zimmer auf einem Tisch zwischen den Verschwörern stand, die rostige Stahlkassette, die ich vor Monaten unter der Spüle verstaut hatte, die ich vor den Brunnenbauern gerettet hatte, die einen Meter tief in der
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