Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
Sie war bereit, neu zu argumentieren und neue Verbündete zu suchen. Als sie gefasst das Krankenhaus betrachtete, bewunderte ich unwillkürlich ihre Stärke. Mit einem nüchternen Blick bewies sie mehr Mut als ich in meinem ganzen Leben.
Während der Einweisungsprozedur sah sie mich nicht an. Ich musste den Ärzten sagen, dass sie gedroht hatte, sich das Leben zu nehmen, und weinte dabei. Bei meinem Gefühlsausbruch verdrehte sie abfällig die Augen. Sie dachte, ich würde schauspielern, noch dazu schlecht, »falsche Tränen« und »falsche Trauer«, so hatte sie es vorhin beschrieben. Ich konnte ihre Gedanken regelrecht hören:
»Wer hätte gedacht, dass er so überzeugend lügen kann?«
Sie hatte recht, ich war ein guter Lügner geworden, aber nicht in diesem Fall. Als die Ärzte sie auf die Station brachten, verabschiedete sie sich nicht. Ich rief ihr den kahlen weißen Flur nach, dass ich sie bald besuchen würde. Sie drehte sich nicht einmal um.
Vor dem Krankenhaus setzte ich mich auf eine niedrige Steinmauer, ließ die Beine baumeln und wartete auf meinen Dad. Er kam verwirrt und erschöpft in einem Taxi an. Von Nahem sah ich, wie verloren er war, wie unvollkommen ohne meine Mum. Als er mich umarmte, hatte ich Angst, er könnte zusammenklappen. Doktor Norling, dezent parfümiert, tadellos gekleidet, begleitete ihn. Er entschuldigte sich so redegewandt, dass er mich an einen Dandy aus einer früheren Zeit erinnerte. Den Mitarbeitern in dem schwedischen Krankenhaus hatte er nicht gesagt, dass meine Mum sich selbst oder anderen etwas antun könnte. Der Grund für seine höfliche Zurückhaltung war die Bitte meines Dads, er sollte ihren Zustand etwas verharmlosen, damit sie möglichst schnell wieder entlassen wurde. Deshalb hatte das medizinische Personal ihr Risikoprofil falsch eingeschätzt – diesen Begriff sollte ich noch oft hören. Als meine Mum gedroht hatte, sie zu verklagen, hatten die Ärzte sie gehen lassen. Es gab keine rechtliche Grundlage, sie festzuhalten. Sie war schließlich freiwillig dort. Sie verhielt sich unauffällig. Was sie über die Vergangenheit geschrieben hatte, war schlüssig und verständlich. Norling war nach England gekommen, um seinen Fehler wiedergutzumachen. Ich hatte zwar das Gefühl, dass es ihm vor allem um seinen eigenen Ruf ging, ein finsteres Motiv konnte ich dabei aber trotzdem nicht entdecken. Vor den englischen Ärzten legte er einen vollendeten Auftritt hin. Aber ich wurde mit ihm nicht warm, obwohl er so viel getan hatte, um zu helfen. Meine Mum hatte ihn treffend beschrieben, er war eitel und aufgeblasen, doch durch und durch bösartig und skrupellos schien er nicht zu sein.
Im Krankenhaus war es sauber. Die Ärzte und Schwestern waren engagiert und herzlich. Es gab ein Besuchszimmer, in dem meine Mum oft auf der Fensterbank saß und aus dem Fenster starrte, das man weder öffnen noch zerschlagen konnte. Über den Stacheldrahtzaun um das Krankenhaus hinweg sah sie in einen Park. Außer Sichtweite lag ein Spielplatz, und im Sommer konnte man oft das Lachen der Kinder hören. Mit dem Winter war es still geworden. Mum drehte sich nicht um, wenn ich hereinkam. Sie sah mich nicht an und redete nicht mit mir oder meinem Dad. Nach unseren Besuchen erzählte sie den Schwestern, wir seien nur dort gewesen, um sicherzugehen, dass man ihren Anschuldigungen nicht glaubte. Ich weiß nicht, welche Erklärung sie sich für meine Rolle zurechtgelegt hatte. Antipsychotika verachtete sie, die Tabletten wären für sie ein Eingeständnis gewesen, dass sich im Sommer nicht das ereignet hatte, was sie behauptete. Die Medikamente zu nehmen, hätte in ihren Augen bedeutet, die adoptierten Kinder im Stich zu lassen, die ihre Hilfe brauchten. Die Ärzte konnten sie nicht zwingen, die Medikamente zu nehmen. Meine Mum hätte zustimmen müssen. Aber sie wollte nicht einsehen, dass sie krank war. Sie hatte um ihren Verstand eine Mauer errichtet, die wir nicht einreißen konnten. Anfangs hatte sie in den Therapiesitzungen ihre Beweise präsentiert und ihre Anschuldigungen wiederholt. Jetzt blieb sie stumm. Wenn ein neues Gesicht auftauchte, sei es beim Personal oder unter den Patienten, erzählte sie alles noch einmal. Jedes Mal wurde die Geschichte länger. Und meine Mum erzählte sie immer besser, als wäre sie nur im Krankenhaus, weil sie eine Situation nicht richtig beschrieben oder einen ihrer Verdächtigen nicht genau charakterisiert hatte. Die anderen Patienten glaubten ihr
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