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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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mir?«
    Einen Moment dachte sie über diese Frage nach, und dann lächelte sie.

* * *

E IN SCHNEESTURM WAR ÜBER Südschweden gefegt und hatte für Flugverspätungen gesorgt, und als wir auf dem Landvetter Airport in Göteborg landeten, war es kurz vor Mitternacht. Der Pilot meldete den eingezwängten, genervten Fluggästen, es sei außergewöhnlich kalt für Mitte Dezember, sogar für schwedische Verhältnisse. Die Temperatur lag bei minus fünfzehn Grad. Hinter dem Umgebungszaun der Landebahn drängten sich schneebedeckte Bäume. Ein paar Flocken trudelten noch gemächlich vom Himmel. Der Anblick beruhigte viele der erregten Gemüter an Bord. Selbst die überarbeitete Flugbegleiterin nahm sich einen Moment Zeit, um die Aussicht zu genießen. Unser Flug war der letzte an diesem Tag. Bis auf eine einsame Gestalt an der Passkontrolle war das Flughafengebäude leer. Als ich durchgewinkt wurde, drehten sich meine Koffer schon auf dem Gepäckkarussell. Ich verließ den Zollbereich und ging an Familien und Paaren vorbei, die sich begrüßten. Bei dem Anblick musste ich an das letzte Mal denken, als ich jemanden vom Flughafen abgeholt hatte, und die Traurigkeit erwischte mich kalt.
    Vier Monate waren vergangen, seit meine Mum eingewiesen wurde. Sie saß in der geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses in Nordlondon. Dass sie behandelt wurde, konnte man nicht behaupten. Meine Mum verweigerte jede Art von Medikation. Seit sie gemerkt hatte, dass die Ärzte sie nicht entlassen würden, redete sie nicht mehr mit ihnen. Entsprechend bekam sie auch keine vernünftige Therapie. In letzter Zeit ließ sie die Mahlzeiten ausfallen, weil sie glaubte, das Essen sei mit Antipsychotika versetzt. Dem Leitungswasser traute sie auch nicht. Zeitweise trank sie nur Saft aus Flaschen, die noch versiegelt waren. Sie war oft dehydriert. Ihre körperlichen Symptome hatten mich schon im Sommer am Flughafen beunruhigt, aber sie wurden noch schlimmer. Woche für Woche spannte sich die Haut enger um ihren Schädel, als wollte sich ihr Körper aus der Welt zurückziehen. Meine Mum starb.
    Obwohl ich nie an den Einzelheiten von Mums Geschichte gezweifelt hatte, vertraute ich ihrer Interpretation nicht. Sie hatte in der Erzählung Sprünge gemacht, die ich nicht nachvollziehen konnte. Ihre Schlussfolgerungen waren extrem. Dagegen wirkten die Beweise nicht eindeutig. Ich war nicht zur Polizei gegangen, weil ich befürchtet hatte, meine Mum könnte eingesperrt werden, falls sich ihre Anschuldigungen nicht bewahrheiteten, falls die Beamten die schwedische Polizei anriefen und hörten, dass es keinen Mord gegeben hatte. Ich wollte, dass wir alle drei, auch mein Dad, mit einem Arzt sprachen, jemand Unabhängigem, dem man auf keinen Fall unterstellen konnte, korrupt zu sein. Am Ende hatte meine Lösung, das Krankenhaus, genau das bewirkt, was ich vermeiden wollte – meine Mum wurde weggesperrt.
    Während der nächtlichen Fahrt durch London hatte meine Mum meine Hand gehalten. Sie war davon ausgegangen, dass ich einen Wagen vom Hotel bestellt hatte, um zur Polizei zu fahren, und ich hatte zwar nicht gelogen, es aber auch nicht richtiggestellt. Nicht aus Feigheit, aus Pragmatismus. Sie erzählte aufgekratzt von ihren Träumen für die Zukunft, dass wir wieder mehr Zeit miteinander verbringen und uns näherkommen würden. Als wir vor dem Krankenhaus hielten, begriff sie erst nicht, dass ich sie verraten hatte, so sehr vertraute sie mir. Sie sagte dem Fahrer, er habe sich vertan und uns zu der falschen Adresse gebracht. Jedem hatte sie misstraut, nur mir nicht. Als ihr klar wurde, dass es kein Irrtum war, schien ihr ganzer Körper vor Kummer zu beben. Ich war ihr Retter und Helfer gewesen, der letzte Mensch, an den sie sich wenden konnte. Am Ende hatte ich mich verhalten wie alle anderen – ihr Mann, ihr Vater und jetzt auch ihr Sohn. Für einen solchen Schlag war es erstaunlich, wie gut sie sich hielt. Das war ein Rückschritt, mehr nicht. Ich war nicht mehr ihr Verbündeter. Ich war nicht mehr ihr Sohn. Sie lief nicht weg oder wurde panisch. Ich konnte erraten, was sie überlegte. Sie hatte die Ärzte in Schweden überzeugt, hier würde ihr das Gleiche gelingen. Wenn sie versuchte wegzulaufen, würde man sie schnappen, sie für unzurechnungsfähig erklären und für immer einsperren. Sie ließ meine Hand los und nahm mir mit ihrer Umhängetasche ihre Beweise und ihr Tagebuch ab. Die Tasche über der Schulter stieg sie mit hocherhobenem Kopf ruhig aus.

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