Ohne Netz
Geräte selbst mit frenetischer Begeisterung und kaufe sich jedes neue Gadget mit einer Art Weihnachtssehnsucht. Aber. Und dann erst kommt es.
Solche rhetorischen Verteidigungsschleifen lassen sich in nahezu allen kulturkritischen Texten seit Anfang des 19. Jahrhunderts finden, seit sich die Beweislast zugunsten der Modernisierer umdrehte. Friedrich Ancillon bemerkt schon 1823, dass diejenigen, die an Bestehendem festhalten wollen, ihre Argumente gegen die Erneuerer und Beschleuniger mittlerweile wie Angeklagte vorbringen müssten, weil die Moderne eine Zeit sei, in der die Dynamik per se recht habe. »Alles ist beweglich geworden oder wird beweglich gemacht, und in der Absicht oder unter dem Vorwand, Alles zu vervollkommnen, wird Alles in Frage gestellt, bezweifelt und geht einer allgemeinen Umwandlung entgegen. Die Liebe zur Bewegung an sich, auch ohne Zweck und ohne ein bestimmtes Ziel, hat sich aus den Bewegungen der Zeit ergeben und entwickelt. In ihr und in ihr allein sucht man das wahre Leben.«
Nein, ich will hier nicht den Kulturkritiker geben und so polemisch oder einseitig gegen das Netz lospoltern wie Henryk M. Broder gegen den Islam. Ist nur auffällig, dass ich selber es anscheinend auch für nötig halte, gleich zu Anfang dieses Bekenntnis abzuliefern: Wirklich, Leute, großes Ehrenwort, ich und das Netz, wir sind auf du & du.
Das Zweite, was mir auffiel: Dass ich tatsächlich fast jeden Tag geschrieben habe. Ob das am analogen Leben und der dadurch frei werdenden Zeit liegt? Bisher dachte ich immer, neben der SZ und der Familie bliebe keine Zeit für gar nix. Jetzt schreibe ich jede Nacht zwei Stunden, und es geht wunderbar. Ich glaube sogar, plötzlich psychisch aufgeräumter zu sein als sonst. Vielleicht liegt’s nur an den ruhigen Tagen zwischen den Jahren. Vielleicht widerfährt mir aber auch im Kleinen, was Mo Yan im Großen erlebt hat.
Im vorigen Jahr war China der sogenannte Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Der wichtigste unter den angereisten Autoren war wahrscheinlich Mo Yan, eine schriftstellerische Naturgewalt, aus dem die Romane in Tausendseitenlänge wie von selbst herauszuströmen scheinen. Zur Messe war ein neuer Wälzer von ihm erschienen, in dessen Nachwort Mo Yan schreibt, dass er das Buch in 43 Tagen geschrieben habe. »Der Überdruss« besteht im Original aus 500 000 chinesischen Schriftzeichen. Kein Wunder, dass auf dem Podium, auf dem das Buch vorgestellt wurde, sofort nach dieser geradezu absurd anmutenden Leistung gefragt wurde. 43 Tage, 500000 Zeichen, das heißt ja mehr als 11 500 Zeichen am Tag? In der deutschen Übersetzung entspricht das 25 Buchseiten.
Mo Yan sagte dazu, das Buch sei für ihn eine Art Experiment gewesen, er habe es handschriftlich verfasst, mit einem Pinsel und mit Tusche. »Es war so herrlich! Vorher hab ich jahrelang am Rechner geschrieben. Aber das dauerte viel länger als mit der Hand. Zum einen ist es im Chinesischen mühsam, die Zeichen zu suchen. Zum anderen hab ich mich morgens immer ganz früh hingesetzt und dachte, ach, kuck ich kurz mal in die Nachrichten. Also bin ich für fünf Minuten ins Netz, aber gerade als ich wieder ausmachen wollte, rief mich meine Frau zum Mittagessen. Es war jeden Tag dasselbe Wunder, ich bin doch nur ganz kurz abgebogen, aber kaum sah ich auf, waren die besten Stunden des Tages vergangen.« Das anschließende Gelächter war der einträchtigste Moment auf dieser Messe. Alle, wirklich alle im Publikum schienen zu wissen, wovon Mo sprach.
Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang vom subjektiven Zeitparadoxon: Die Länge der Zeit dreht sich in der Erinnerung gewissermaßen um. Intensiv erlebte Zeit kommt einem lang vor. Wenn ich auf einer Radtour morgens im eisigen Nieselregen am Vierwaldstättersee losfahre, mich bis zum Mittag durchs Geröll und letzte Schneefelder auf den karstig einsamen Gotthard hinaufquäle, dann auf der Tessiner Seite in den milden Nachmittag rolle, vorbei an ersten Palmen, italienisch klingenden Dorfschildern, einem Weinfest kurz hinter Mairengo, und abends am Lago Maggiore unter sternklarem Himmel mein Zelt aufbaue, dann wundert mich im Rückblick auf diesen satten, vollen Tag, während meine Lungenbläschen vom Radfahren noch wie Schampus prickeln, dass nur zehn Stunden vergangen sind. Setze ich mich hingegen am selben Tag in Luzern in einen Porsche Cayenne, was ich hoffentlich nie in meinem Leben tun werde, und lege dieselbe Strecke im Stop-and-Go-Rhythmus der Ferienlawine
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