Ohne Netz
bekommen, keine verschickt. Der Witz ist aber, dass ich diesmal auch gar keine erwartet habe, da war, anders als sonst, keinerlei Mangelgefühl. Wir sind mit den Kindern rausgegangen, um acht, haben uns an die Straßenecke gestellt, drei Raketen angezündet und uns gefreut, als eine von ihnen funkenprasselnd an die schneeüberzuckerte Zugleitung schoss. Und weil wir um diese Uhrzeit die Einzigen waren da draußen, war es so still, dass man hörte, wie im Dunkel die dünnen Holzstäbe mit den ausgebrannten Zündsätzen auf die Straße fielen.
JANUAR
Der Proband wundert sich über sein eigenes präventives Digitalgeschleime, besucht einen Gefangenen, der durch die Mitwirkung in einem Männerchor enorme Oberkörpermuskeln entwickelt hat, und betet im SZ-Aufzug inbrünstig, dass das digitale Superhirn nicht einem Erwachsenenhirn gleichen möge. Am Ende des Monats fragt er sich jählings, ob er mittlerweile nicht zentrierter und wohltemperierter lebt als zu Onlinezeiten.
2. JANUAR
Mir ist heute ganz feierlich und neujahrsknusperfrisch zumute, ich richte mich in der Bürowohnung meines Freundes Axel ein, habe dort ein Zimmer, als Untermieter, ein kahler Tisch mit Fenster zum Hof, das soll mein Arbeitsplatz sein in meinen freien Monaten. »Hey, da bist du ja,« sagt er morgens, »trotz sozialem Selbstmord.« Er behauptet, mir aus Kairo eine Karte geschickt zu haben, »vor einer Woche schon, aber was für ein Aufwand, Karte kaufen Briefmarke kaufen und dann noch mit der Hand schreiben. Muss ich mich erst wieder dran gewöhnen, kriegt man ja einen Krampf.«
Axel arbeitet freiberuflich für eine der größten Software-firmen der Welt, und er ist der lebende Gegenbeweis zu all den Theorien von der automatischen geistig-seelischen Verarmung durch das Internet. Wenn er sich ein neues Gerät kauft, schwärmt er zwar wochenlang von der Formschönheit, der »architektonischen Eleganz« und Intelligenz dieser Maschine, er hat aber trotz seiner Totalvernetzung ein reiches analoges Leben, verbringt viel Zeit mit seinem Sohn und seiner Frau, reist viel, liest viel, und ich kenne niemanden, der seine Freundschaften so gut pflegt wie er. Mich kann er heute leider nicht sonderlich pflegen, er muss nämlich für seine Firma Kundeninterviews führen, ganz plötzlich, aber das sei typisch, schimpft er, schließlich herrsche in dem Laden eigentlich permanent nur Chaos. »Es gibt keine Verträge, jeder wurstelt einfach vor sich hin, weil alles viel zu schnell geht und weil die in der US-Zentrale keinerlei, aber wirklich keinerlei Überblick haben. Eigentlich ist es in solch großen Softwareunternehmen wie im Sozialismus: Es werden mit großem Aufwand irgendwelche Fünfjahrespläne erstellt, die aber schon nach einem Jahr wieder Makulatur sind. Macht aber nichts, nach dem Jahr haben eh alle vergessen, dass das irgendwann mal abgemacht wurde. Vergangenheit war gestern, es geht immer nur in Richtung Zukunft.«
Spricht’s und schließt die Tür, weil ihm die Kundeninterviews, die er später zu sogenannten Customer-Success-Stories mit jeweils mindestens »zwei quantitativen Winner-Issues« zusammenfassen muss, peinlich sind. Ich aber sitze im Nebenzimmer, schaue ins Schneegestöber raus und gratuliere mir selber zu meinem ganz privaten Winner-Issue: Ich bin seit einem Monat offline und habe kein einziges Mal geschummelt.
Als ich vorhin meine Dezemberaufzeichnungen durchgelesen habe, fielen mir zwei Dinge auf: Erstens wurde mir fast schlecht, als ich meine Liebeserklärung an das Internet an einem der allerersten Tage noch mal las. Nicht dass ich damit gelogen hätte. Aber was für eine übertriebene Winselei: »Ich mache all das nicht, weil ich das Internet doof finde. Im Gegenteil, ich finde es großartig, ein riesiges Versprechen.« Als hätte ich Angst, dass mir irgendwelche fanatischen Blogger mit dem Baseballschläger auflauern, wenn ich nicht erst mal devot den ultimativen Treueschwur aufs Netz leiste.
Interessanterweise ist in allen Texten, die sich kritisch mit dem Internet auseinandersetzen, irgendwo dieses geradezu ritualhafte, defensive Bekenntnis eingebaut, man habe ja erst mal rein gar nichts gegen das Netz und sei, Gott bewahre, ganz bestimmt kein Maschinenstürmer. Das sei schon alles super, two thumbs up, Bombenerfindung, und wie fantastisch, dass man das Kinoprogramm, alle Münchner Orthopäden und das Rezept für den Rote-Bete-Walnuss-Salat auf Knopfdruck finde. Außerdem verfolge man die permanente Verbesserung der
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