Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
Vom Netzwerk:
zurück, scheint sich die öde Zeit auf der Autobahn unendlich zu dehnen. Am Abend aber, wenn ich in Bellinzona den Wagen genervt in die Tiefgarage des Fünfsternehotels fahre, wirkt es, als sei der Tag schon wieder ausgelöscht. Nichts bleibt haften, die vergangene Zeit schrumpft, weil ich kaum Erinnerungsspuren angelegt habe. Ich liege dann im Hotelbett und denke traurig, was war heute eigentlich? Und dann dreht mir im selben Moment gemeinerweise auch noch jemand unten in der Tiefgarage die Ventile von meinem Spritpanzer auf.
    Die als lang(weilig) erlebte Zeit schrumpft in der Erinnerung zu einem kurzen Punkt zusammen; als kurzweilig erlebte Zeit hingegen wird im Gedächtnis in große Erinnerungsräume umgewandelt. Früher habe ich all die Sofakartoffeln bedauert, die stundenlang vorm Fernseher versanken, Dutzende Programme in sich reinstopften wie Chips and Fingerfood und danach nicht mal mehr sagen konnten, was sie da alles gesehen hatten. Die verglotzte Zeit verschwand im Moment des Ausmachens in sich selber. Im Netz habe ich großteils nichts anderes gemacht. Der ganze Tag kommt äußerst kurzweilig aus ein und derselben Kiste, die Nachrichten, die Arbeit, die Filme am Abend, alles Intensitätssnacks zum Instantknupsern – und beim Ausschalten ist alles gelöscht.
    Shuka Glotman ist ein Fotograf aus Tel Aviv. Als er im Herbst zu Besuch bei uns war, lief er jeden Tag zu Fuß durch die Stadt. Wenn wir uns abends trafen, fragte ich: »Und, wie war dein Tag?« Er fing dann immer irgendwelche tollen Geschichten an: »Da war dieser alte Mann, der die Schwäne fütterte, unten an der Isar, und als ich ich fragte, woher er die Narbe an seiner Hand habe, erzählte er, wie er 1972 aus Bulgarien nach Deutschland geflohen ist.« Es folgte die turbulente Lebensgeschichte des Bulgaren und Interessantes über das Futterverhalten von Schwänen. Am Ende fragte er: »So how was your day?« Hmm. Wie war mein Tag. 77 Webseiten angesurft. 63 Mails geschrieben. Alles vergilbt.
    3. JANUAR
    Gerade eben las ich erleichtert im Lokalteil, dass der kleine Junge den Unfall am Deutschen Museum mit Beinbruch überlebt hat.
    5. JANUAR
    Das wahrscheinlich Schlimmste an meiner digitalen Sucht war die Aufmerksamkeitszerstäubung, die Schwierigkeit, konzentriert über lange Strecken an ein und derselben Sache zu arbeiten. Der vorige Satz hätte in meinen Internetzeiten so ausgesehen: Das wahrscheinlich Schlimmste spiegel.de/panorama an der Sucht war die Aufmerksamkeitszerstäubung climatedebatedaily.org, nyt.com, die Schwierigwebmail.sued-data.de keit, konsistent webmail.sued-data.de, vimeo.com über lange Strecken google.de, google.com/attention-deficit an ein und derselben Dingenskirchen, na wo war ich, egal, schau ich halt irgendwas auf youtube.com.
    Wobei das Phänomen der Ablenkung ja nun nicht etwas ist, das erst das Internet über eine bis dahin hochkonzentriert vor sich hin werkelnde Spezies gebracht hätte. Michel Foucault beklagte in den Siebzigerjahren den völligen Verlust der »Schweigekultur«, das permanente Geplapper der Fernsehgesellschaft würde alle Selbstregulationsfähigkeiten verkümmern lassen. Aber auch am Fernsehen kann es nicht gelegen haben, schließlich schreibt Fernando Pessoa schon im »Buch der Unruhe«, das zwischen 1913 und 1934 entstand, vom vergeblichen Bestreben, bei sich selbst zu sein, so als seien die Ablenkung und die Entfremdung von uns selber Grundkräfte, ehern wie kosmische Gesetze: »Wir leben zumeist außerhalb unserer selbst, und das Leben ist eine fortwährende Ablenkung. Und doch zieht es uns zu uns selbst wie zu einem Mittelpunkt, um den wir gleich Planeten absurde, ferne Ellipsen beschreiben.« Und Alexis de Tocqueville wunderte sich bereits 1832 auf seiner Amerikareise über »all die Menschen, die sich rastlos im Kreis drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu schaffen, die ihr Gemüt ausfüllen«.
    Am eindrücklichsten finde ich aber einige Absätze aus Martin Heideggers »Sein und Zeit« von 1927, die könnten nämlich bis in die Wortwahl hinein aus Pamphleten gegen die Ablenkungskraft des Internets stammen. Die drei Begriffe, mit deren Hilfe Heidegger die Neugier definiert, klingen wie Schlagwörter aus der aktuellen Debatte: Unverweilen, Zerstreuung und Aufenthaltslosigkeit. Das Unverweilen ist die Unfähigkeit, bei einer Sache zu bleiben, das konsumistische Sehen, »nicht um das Gesehene zu verstehen, sondern nur um zu sehen. Sie (die Neugier) sucht das Neue nur, um von ihm

Weitere Kostenlose Bücher