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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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erneut zu Neuem abzuspringen.« Heute heißt das ADHS. Dieses Unverweilen und die Zerstreuung in neue Möglichkeiten fundieren den dritten Wesenscharakter dieses Phänomens, den wir die Aufenthaltslosigkeit nennen: Die Neugier ist überall und nirgends.
    B. brachte die Überzeitlichkeit des Phänomens ganz ohne Tocqueville, Heidegger und Aufenthaltslosigkeitstheoreme auf den Punkt, als sie einmal auf meine Klagen über die Black-berry-Sucht achselzuckend antwortete: »Du hast doch früher auch auf jeden Bildschirm oder in die Zeitung gestarrt. Jetzt sind es halt der Blackberry und dein Apple.«
    So suche ich mir auch jetzt neue Kanäle, in denen ich anstrengungslos Zeit vertrödeln kann. Während der Arbeit habe ich sehr viel mehr in die Meldungen als früher geschaut, am Bildschirm quer durch alle Ressorts die Seiten der Zeitung vom kommenden Tag gelesen und mich durch viel Papier gefräst. Natürlich hat das auch mit meinem Job zu tun, ich muss hier schließlich meine Quote an Themen und Texten erfüllen. Aber viele dieser nervösen Suchbewegungen haben auch etwas Ausgefranstes, Läppisches. Konzentriert zu arbeiten, das fühlt sich an, als kraule man kraftvoll durch die Zeit. In diesem nervösen Suchmodus habe ich hingegen oft das Gefühl, als würde die Zeit über mich hinwegplätschern wie pipiwarmes Wasser. Ist es also Negativmystifizierung, wenn man die eigene Disposition zur Ablenkung auf die Kraft des Netzes schiebt?
    6. JANUAR
    Heute morgen habe ich kurzerhand mein Fensterbrett abgeräumt. Da standen all diese Bücher übers Netz rum, die Ordner mit den wissenschaftlichen Studien und Schlaumeieruntersuchungen, daneben ein riesiger Stapel Mutmaßungsballast, Leitartikel, Essays, »Spiegel«-Titel. Die ersten Tage dachte ich, du musst da doch viel mehr reinschauen. Aber wenn ich dann reinschaue, bekomme ich meist ein hoffungslos trockenes Gefühl im Mund, so als müsste ich bei großem Durst eine Tüte Mehl essen. Diese Texte sind oft so dürr, weil sie unter der sengenden Sonne des Rechthabens stehen, in der monotonen Wüstenei der Bescheidwisserei. Alle wollen immer etwas beweisen, was von Anfang an fest steht, wie in Nietzsches galliger Berufsdefinition der Philosophen, die in seinen Augen »Leute sind, die einen Stein hinter einen Baum legen, und dann gehen sie ihn suchen.« Beneidenswert, wie da immer Thesen übers Papier geschoben werden wie winzigkleine Spielzeugautos, die man nach Belieben umstellen kann. Dann zaubern die Autoren eine Untersuchung aus dem Ärmel, die ihnen merkwürdigerweise ebenfalls wieder zu hundert Prozent recht gibt, ist das nicht fabelhaft, und untermauern das dann noch mal mit Studie hier, Studie da. Ich tu hier ja selbst oft so gescheit, siehe gestern, best of Ablenkung aus 150 Jahren.
    Ich bin ab jetzt einfach meine eigene Studie: 55 Prozent des Befragten sagen, dass sie ohne Internet plötzlich überraschend gut zurecht kommen. 11 Prozent des Befragten sagen, eher nicht so gut, aber wenn’s denn sein muss, kann man da lebenstechnisch sicher was mitnehmen für die Zeit danach. 20 Prozent toben und schäumen, hammerharte Schnapsidee, wir wollen hier raus. Die restlichen 14 Prozent können an der Studie leider nicht teilnehmen, weil sie gerade begeistert Harmut Rosa lesen. 56 Prozent sagen ferner, dass sie von dem frühen Aufstehen zwar müde sind und erschöpft bis auf den Grund, dass diese regelmäßige, nächtliche Einsamkeit aber sehr schön ist, »hat was Mönchisches«, meint einer. Und einer, der sich dazu aber nicht näher öffentlich äußern möchte, denkt youpornyoupornyouporn.
    7. JANUAR
    Der Filmemacher Andres Veiel schreibt mir einen schönen Brief: »Was Du jetzt ein halbes Jahr versuchst, mache ich am Wochenende einen Tag – den Geräteschabbat, wie ich es nenne, wenn das Rauschen des Computers verstummt. Und schon dieser eine Tag hilft loszulassen, der klammheimlichen Neugierde zu entkommen, wer mir denn jetzt wieder eine Mail geschrieben haben könnte – und der damit verbundenen Unruhe. Und doch bleibt immer ein Fünkchen schlechtes Gewissen, mich aus dem Netz auszuschalten, die anderen unruhig vor ihren Geräten scharren zu lassen, weil ohne Antwort von mir.«
    Besonders gut gefällt mir dieser letzte Satz: Dass Veiel ein schlechtes Gewissen hat, sich auszuklinken, weil er denkt, die anderen würden eine sofortige Antwort erwarten. Veiel ist ein erfolgreicher Dokumentarfilmer, 50 Jahre alt, der ziemlich souverän wirkt. Und selbst ihm scheint noch am

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