Ohne Netz
unfähig sein, Ihnen eine Antwort zu geben. Ihr fiebriger Geist wird den Schlaf zur Hilfe rufen, um seiner Überreizung ein Ende zu bereiten.«
Andere Reisende, und das macht es so interessant, hatten umgekehrt den Eindruck, dass die Zugfahrt nicht die Wahrnehmung der Landschaft zerstört, sondern überhaupt erst ermöglicht. Voraussetzung dafür ist freilich, wie der Historiker Wolfgang Schivelbusch schreibt, aus dessen »Geschichte der Eisenbahnreise« all die eben angeführten Zitate stammen, schreibt, dass die Wahrnehmung des Reisenden »sich nicht gegen die Effekte der neuen Reisetechnik sträubt, sondern diese ganz in sich aufnimmt«. Wer gar nicht erst versucht, Details des vorbeiwischenden Vordergrundes zu fixieren, sondern stattdessen die Landschaft an sich vorbeiziehen lässt wie ein Panorama, der kann das Reisen genießen. So schwärmt der Pariser Journalist Jules Clarétie, eine Eisenbahnfahrt führe dem Reisenden »in wenigen Stunden ganz Frankreich vor, vor Ihren Augen entrollt sie das gesamte Panorama, eine schnelle Aufeinanderfolge lieblicher Bilder und immer neuer Überraschungen«. Ja, er sagt, die Bahn zeige erst »das Wesentliche einer Landschaft, wahrlich ein Künstler im Stil der alten Meister. Verlangen Sie keine Details von ihr, sondern das Ganze, in dem das Leben ist.«
Es kann zwischen den begeisterten Passagieren und den traditionellen Reisenden keine richtige Verständigung geben, so unterschiedlich ist ihr Blick: Den einen ist es aufgrund der Mobilität nicht mehr möglich, die Welt in Ruhe wahrzunehmen. Für die anderen, so Schivelbusch, ist genau diese Mobilität »die Grundlage der neuen Normalität. Eine Erfahrung von Verflüchtigung gibt es für diesen Blick nicht mehr, weil die verflüchtigte Wirklichkeit seine neue normale Wirklichkeit geworden ist oder, anders gesagt, weil der Raum, in dem die Verflüchtigung sich am deutlichsten zeigte, der Vordergrund, für den panoramatischen Blick kein Existenz mehr hat.« Sind wir, die wir über das Vielzuviel des Netzes klagen, die Ablenkung, das Geflacker und Geprassel, also nur die Flauberts und Hugos unserer Zeit, olle Walrösser, heulende Hunde, die den Blick nicht umstellen können?
16. JANUAR
Ich habe B. meine bisherigen Aufzeichnungen gezeigt. »Huiuiui«, sagt sie verwundert nach der Lektüre, »ich hatte keine Ahnung, dass du dermaßen ein Rad ab hast.« Wenn man mein Surfverhalten tatsächlich als Sucht beschreiben will, dann habe ich in meiner Alltagspraxis – dem verstohlenen Mail-Checken am Schuhschrank, frühmorgens, dem noch mal kurz Ins-Netz-Gehen, wenn alles schläft – einem Pegeltrinker geglichen, der heimlich permanent vor sich hinsüffelt, dabei aber weiterhin funktioniert und seine Fahne mit Pfefferminzbonbons überdeckt.
17. JANUAR
Es gibt diese Kollegen wie Gustav Seibt, die einem am Telefon berichten, sie hätten gerade etwas über den Investiturstreit gelesen, kolossal, das werfe ja ein völlig neues Licht auf die bisherige Forschung. Solche Leute scheinen in den Büchern, über die sie reden, beheimatet zu sein. Sie sagen, dieser oder jener Satz stehe in der Sophienausgabe Band zwei auf Seite 180 oben, und sie können einem die argumentativen Tiefenstrukturen in Walter Benjamins »Wahlverwandtschaften«-Aufsatz so plastisch beschreiben wie andere eine Landschaft oder ein Fußballspiel. Ich habe meistens am Ende eines Romans schon wieder vergessen, wie die Figuren in den ersten Kapiteln überhaupt hießen. Und wenn ich manchmal Rezensionen finde, die ich ganz offensichtlich vor Jahren mal geschrieben habe, zumindest steht da mein Name drunter, dann denke ich, parbleu, muss ja tatsächlich ein interessantes Buch gewesen sein.
Verliert sich da was? Oder bin ich halt einfach nur ein Gedächtnistrottel, während Leute wie Gustav Seibt eben Ausnahmeerscheinungen sind, die es immer gegeben hat? Vorhin habe ich jedenfalls ergebnislos nach einem Adorno-Satz gesucht. Ich war mir sicher, der Satz stehe irgendwo links oben in der »Ästhetischen Theorie«, also habe ich das ganze Buch durchgescannt, den Blick starr auf die ersten Zeilen der linken Seiten gerichtet, aber wahrscheinlich steht er nicht nur rechts unten, sondern auch noch in einem ganz anderen Buch.
18. JANUAR
Im Kollektivgedächtnis unserer Kinder, in ihren Träumen und verdrängten Erinnerungen werden wir wahrscheinlich gespeichert als apathische Fahlgesichter, avatarblau. Sollte eines meiner Kinder in späteren Dekaden mal eine Analyse machen und
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