Ohne Netz
dann verstört zu mir kommen, Papa, ich träum plötzlich dauernd von dir, aber du hast immer so kalte graue Gesichtshaut, dann werde ich ihm mit betretener Miene erklären: »Weißt du, als du klein warst, war das Netz noch nicht allumfassend, sondern man musste noch in sogenannte Bildschirme schauen. Wenn ich damals mit dir geredet habe, habe ich meistens gleichzeitig in diesen Schirm gestarrt.« Ich weiß nicht, wie oft ich mit meinen Kindern geredet und währenddessen E-Mails auf meinem Blackberry gecheckt, am Rechner Spiegel Online durchgescrollt oder »nur kurz« eine SMS verschickt habe. War das früher auch so?
Ich bin mit den Kindern im Schwimmbad. Wir treiben zu dritt durchs Wasser, ich bin ein leck geschlagenes Boot, das von den Kindern repariert wird. Irgendwann sagen sie: »Jetzt geht’s wieder«, steigen als Passagiere auf meinen Rücken und lassen sich von mir ins Becken raustragen. Dann gehe ich wieder unter, sie werden zu Monteuren, ziehen mich mit morschen Planken und Loch im Kiel in den Nichtschwimmerbereich und vertäuen mich an der Alutreppe, um mich erneut zu reparieren. »Keine Angst, Papa«, sagt S., »wir machen dich einfach immer wieder heil.« Während ich mich über dieses unbeabsichtigt große Versprechen freue, kommt eine Frau mit zwei Kindern ins Schwimmbad. Die beiden springen mit einem Ball ins Wasser, die Mutter setzt sich im Badeanzug auf die Bank, holt ihr iPhone raus und fängt an zu mailen oder simsen. Ihre Kinder rufen, weil sie ihr zeigen wollen, wie sie einander den Ball zuwerfen, sie streift manchmal für Sekunden mit dem Blick vom Display hoch, sagt Wörter wie »schön« oder »super« ohne wirklich hinzusehen, und schreibt dann weiter. Es muss toll zugehen in ihrer Mailbox, sie lacht immer wieder über Botschaften, die ihr geschickt werden, und schreibt dann selbst mit leuchtendem Lächeln zurück. Irgendwann kommt ihre Tochter aus dem Wasser, schmeißt wutentbrannt den Ball auf den Boden und schreit: »Mann, du kuckst nie. Nie. Nie. Nie.« Die Mutter schaut auf und sagt: »Was denn, mein Liebling? Ich hab doch geschaut. Ich hab genau gesehen, wie du den Ball gefangen hast.«
Böse Frau, schlechtes Netz, düstere Zeiten, denke ich. Als wir dann aber Pause machen und hinten am Kiosk Pommes holen, lese ich den Kindern aus »Meine Mutter ist in Amerika« vor, einer Graphic Novel von Emile Bravo über die Lebenseinsamkeit eines kleinen Jungen in den siebziger Jahren. Das lieblos kalte Desinteresse des Vaters wird dadurch gezeigt, dass er das ganze Buch über hinter seiner Zeitung verschwindet. »Wie du«, sagt S. lachend, »wie du beim Frühstück.« Frechheit.
21. JANUAR
Als vor drei Jahren eine Nachbarin starb, kam ihr Bruder angereist, um ihre Wohnung aufzulösen. Er stand ratlos inmitten der Sachen, die jetzt, da sie nicht mehr da war, plötzlich so vollgesogen waren mit ihrer Abwesenheit. Er stellte ein paar Dinge zusammen, die er verkaufen wollte, und drehte, im Flur stehend, einen Spiegel ratlos hin und her. »In dem hat sie sich täglich angeschaut, den kann ich doch nicht wegwerfen.« Einmal traf ich ihn unten an den Mülltonnen, er war dabei, drei riesige Boxen mit Postkarten wegzuwerfen. Seine Schwester hatte immer viel fotografiert, war gerne in Museen gegangen und hatte über die Jahre eine wunderschöne Sammlung von Kunstpostkarten erworben. Als er mich sah, lief ein Erleichterungslächeln über sein Gesicht: »Wollen Sie die nicht haben? Ich bringe es nicht übers Herz, die wegzuschmeißen. In meine kleine Wohnung mitnehmen kann ich sie aber auch nicht.« So kam ich in den Besitz von ungefähr 300 Postkarten, in denen sich das Leben unserer Nachbarin und die Kunstgeschichte mischen: Matisse-Blumen und thailändische Strände, früher Picasso und baltische Landschaften in gedeckten Farben, Lissabonszenen und schwarzweiße Küstenfotografie, viele sehnsüchtig schauende Gesichter, Paul Klee, spielende Kinder. Ich freute mich, als ihr Bruder mir die Box schenkte, und nahm mir vor, wieder mehr Karten zu verschicken. Was ich freilich kaum je tat. Jetzt aber schöpfe ich aus dem Vollen und bekomme oft zu hören, was für schöne Motive ich ausgesucht hätte und wie authentisch das sei, endlich mal Postkarten von jemandem zu bekommen, da sehe man so schön dessen eigenen Geschmack, das sei ja so ganz anders als bei der unpersönlichen Mail.
23. JANUAR
Ich bin jetzt regelmäßig in Bibliotheken unterwegs. In der Staatsbibliothek steht noch ein Mikrofichegerät.
Weitere Kostenlose Bücher