Ohne Netz
der ersten Klasse ergattern, vor allem Holger, der in ebendiesem ICE bald nach Berlin fahren wird. Er verlässt die SZ, wozu mein Albtraum von heute Nacht passt, ja, der Traum beschreibt die Situation so passgenau, als hätte ich ihn in einem Labor für tiefenanalytische Traumsymbolik bestellt: Ich muss ein Floß die Isar runterlenken, vertäut mit langen Fichtenstämmen, vollbepackt mit Musikinstrumenten, die in der Mitte des Floßes wie Gerümpel aufeinanderliegen. Ich halte das baumlange Ruder ins Wasser und habe gerade den Eindruck, dass ich das schon alles irgendwie im Griff habe, ruhige Strömung, schönes Wetter, da sehe ich, dass sich unter den Instrumenten geräuschlos das Floß auflöst. All die Knoten der kokosfaserigen Stricke, mit denen die Stämme aneinandergebunden wurden, sind aufgegangen, die Stämme gleiten wie in Zeitlupe und ohne dass ich etwas daran ändern könnte, auseinander, darunter glitzert das dunkle, tiefe Wasser. Ich versuche, an den Rändern des Floßes gegenzudrücken, um die auseinandertreibenden Stämme zusammenzuhalten, völlig sinnlos, die Instrumente rutschen zwischen den größer werdenden Ritzen in den Fluss und gehen lautlos unter, die Stämme treiben davon, am Ende balanciere ich auf den letzten beiden dünnen Fichten.
4. FEBRUAR
Ich plane eine Reise durch die bankrotten Kommunen. Vier Tage, sechs Städte. Ich telefoniere mit Stadtkämmerern und Intendanten, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband in Wuppertal und dem Kulturdezernenten in Oberhausen, dem Essener Intendanten Anselm Weber und dem Kölner Komment, dem Sekretariat der »Ruhr 2010«-Kulturhauptstadt und der Sekretärin von Fritz Pleitgen. Und alle, alle wollen sie mich ans Netz delegieren: Die Nummer kriegen Sie leicht über unsere Homepage raus, schicken Sie eine Mail, kucken Sie mal in deren Onlineprogramm. Immer wenn ich sage Problem, Problem, heißt es, klingt ja aufregend, aber wie kriegen Sie das hin? Gar nicht. Oder schwierig. Ich zähle die Tage, bis das Experiment vorbei ist, ich mich wieder einloggen kann in den digitalen Weltgeist und mühelos in der digitalen Riesenlake mittreibe.
Ha! Der digitale Weltgeist. Jetzt plappere ich selber schon den Unsinn, über den ich mich so gern aufrege. Heute schrieb ein Amerikaner in der FAZ was vom kollektiven Gehirn. Was ist das nur für ein metaphysisches Geraune allerorten? Das Netz als Organismus. Als Gehirn, das immer klüger wird. Oder, noch prätentiöser, als »Noosphäre«. All diese Esoterik 2.0, die das Netz zu einem alles überwölbenden gottähnlichen Wesen macht. Klar, Google und Facebook merken sich gierig jeden Link, den wir ansteuern, um uns noch besser mit Werbung füttern zu können. Und das iPhone vereint mindestens 20 herkömmliche Apparate in sich, Kompass, Landkarte, Wasserwaage, Walkman, Laptop ... Aber merken all diese iPhoriker, wenn sie vom Internet als dem großen Superhirn schwärmen, gar nicht, was für einer kryptoreligiösen Rhetorik sie da auf den Leim gehen? Es hat fast schon was von geiler Devotheit, mit der sie den Menschen entmündigen und das Netz zum Weltgeist machen. Das Superhirn kann selber erst mal gar nix. Es braucht Einzelmenschen, die es füttern.
Hugh, Häuptling Analog hat gesprochen, raucht aber weiterhin gerne eine Friedenspfeife mit allen Interneteuphorikern.
6. FEBRUAR
Manche Bücher schlagen in meinem Leben ein wie ein Meteor. In den vergangenen Wochen habe ich »Beschleunigung – Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne« verschlungen, ein Buch des Soziologen Hartmut Rosa, das die ganze Internetproblematik wie ein Puzzleteil an den richtigen Platz rückt. Rosa wundert sich zunächst darüber, dass wir in der Moderne, in der wir doch enorm viel Zeit gewonnen haben, permanent von dem Gefühl gequält werden, keine Zeit mehr zu haben. Wir werden doppelt so alt wie die Menschen im Mittelalter, und wir haben technische Maschinen zur Hand, die uns zusätzlich Zeit freischaufeln: Waren werden viel schneller produziert als früher, das Tempo der Fortbewegung hat sich verhundertfacht, die Datenverarbeitung vertausendfacht.
Als sich diese allumfassende Beschleunigung am Horizont der Moderne abzeichnete, glaubten viele, ein Freizeitparadies warte auf die Menschen der Zukunft. So prognostizierte John Maynard Keynes 1930, das 21. Jahrhundert werde das »Zeitalter der Freizeit«. Da die Maschinen uns die meiste Arbeit abnehmen würden, prognostizierte er »Drei-Stunden-Schichten oder eine 15-Stunden-Woche«.
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