Ohne Netz
Oberhausen, der verschuldetsten Stadt Deutschlands, thront das Centro, das größte Einkaufszentrum Europas und wirkt in dieser müden ausgelaugten Stadtlandschaft wie die bauliche Umsetzung eines schalen Versprechens. Während ich vor diesem strahlend leeren Zentrum stehe, das genau an der Stelle gebaut wurde, an der einst der erste Stahlkocher des Ruhrgebietes stand, fällt mir ein, dass ein französischer Banker 2006 sagte, dass Journalisten heute in der selben Situation seien wie Stahlarbeiter in den siebzigerjahren: »Sie werden verschwinden, aber haben noch keine Ahnung davon.«
10. FEBRUAR
Wahrscheinlich das Elendste an meinem Beruf ist die abendliche Hotelzimmereinsamkeit. Insofern ist mein früheres zwanghaftes Mail-Checken direkt nach der Ankunft in den Hotels auch wieder verständlich, das Display ist ja oft eine Art Schutzschirm gegen den Rest der Welt. Hotelzimmer sind einfach öde. Die Vorstellung, dass in der Nacht zuvor ein übergewichtiger Vertreter in die Matratze, auf der man nachher liegen wird, sein Alkoholproblem ausgedünstet hat, oder dass morgen über die Stuhllehne, an die man nach einem langen Oberhausener Tag gerade sein müdes Stahlarbeiterhaupt lehnt, irgendein Mensch seine Unterwäsche und seine Socken legen wird, kann an emotional gefestigten Tagen eine magenstärkende Demutsübung sein. Aber wer ist schon emotional gefestigt nach einem Tag in Oberhausen?
Also nichts wie raus hier. Ich gehe abends spazieren. Der ganze Ruhrpott ist mit Plakaten für »Zeiten ändern Dich«, den Film über Bushido, vollgepflastert. Ich habe mal, als das Label Aggro, das Bushido berühmt gemacht hat, noch neu war, gewagt zu schreiben, dass ich die Musik, die die machen, und vor allem die Strategie, einfach nur die letzten verbliebenen Tabus abzureiten, ekelhaft finde. Ich bekam zig Hass-Mails der übelsten Sorte, Beschimpfungen und Schmähungen sowieso, aber das ging bis zu handfesten Drohungen. Irgendjemand schickte mir, selbstverständlich anonym, einen Link zu einem Hassrap auf mich, den er ins Netz gestellt hatte. Ich erinnere mich noch an die Zeilen »Sling, eine Klinge von hinten / Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du nicht mehr stehen«. Nach der Erfahrung habe ich mich aus dem Telefonbuch streichen lassen. Was natürlich nur beweist, dass ich ein hoffnungslos verkrusteter Spießer bin, der neuere Subkulturen nicht zu durchdringen vermag, Dissen und Fertigmachen gehört nun mal zu jeder normalen Hiphop-Battle dazu und ist eines der edel prickelnden Fermente im postmodernen Melting Pot der Kulturen. Erst als ich die Bushido-Plakate sehe, fällt mir dieser famose Nebeneffekt am digitalen Fasten auf: ein halbes Jahr lang keine digitalen Leserkommentare, nicht mitzubekommen, wie da manchmal mit verbalen Zaunlatten draufgedroschen wird. Mir wird schon mal präventiv schlecht, wenn ich daran denke, was passiert, wenn die Netzmeute mein Tagebuch in die Finger kriegt. Nur schon mal vorweg, für die, die mich fertigmachen wollen: Einfach Eintrag vom 28. Februar lesen und dann enthemmt losbloggen.
11. FEBRUAR
Während ich durch Oberhausen, Duisburg, Essen und andere zugige Ecken des Ruhrgebiets fahre, tobt in den Zeitungen ein Krieg um den Roman »Axolotl Roadkill«. Die 17-jährige Autorin Helene Hegemann, die für ihr Debüt zunächst euphorisch gefeiert wurde, hat anscheinend einige Passagen bei einem Blogger und dann noch dies und das anderswo abgeschrieben. Jetzt schäumen die einen, dieser Roman sei eh ein skandalös obszöner und moralisch derart runtergewohnter Scheiß, dass die Nachricht von der heimtückisch erschwindelten Genialität auf schändliche Art und Weise dazupasse. Die anderen sagen, ultraspießige Neiddebatte, das Buch ist so unheimlich gut, da fallen ein paar Übernahmen und Fremdinspirationen nicht sonderlich ins Gewicht; außerdem sei das kein Diebstahl, sondern zeitgemäßer Ausdruck der Mash-up-Kultur, nieder mit der Idee von der Autorschaft, im Netz entstehe ohnehin gerade das eine große Buch, der Endlostext des globalen Gehirns, Originalität sei da doch eher ein verschrobenes Konzept ewiggestriger Besitzstandswahrer. Ich finde weder das eine noch das andere, ich war beeindruckt von dem eigenen Ton dieses Buchs, und gerade deshalb ist da aufgrund der ungeklärten Vorwürfe jetzt ein schaler Beigeschmack, zumal sie selbst mit etwas unbeholfen arroganter Pose so tut, als ob zitieren und klauen dasselbe sei.
Ich weiß gar nicht genau, wieviel sie abgekupfert haben soll, die
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