Ohne Netz
Woher kommt es also, dass wir uns heute, statt in einem Paradies der Muße zu leben, eine Art permanentes Notstandsgebiet konstruiert haben?
Der Denkfehler der Optimisten aus früheren Tagen war die Annahme, dass sich die Welt nur außerhalb unseres Lebens beschleunigen würde und wir Menschen diesem Treiben aus einer Art zeitlichem Naturreservat heraus bequem zuschauen könnten. Aber da wir es selber sind, die diese Beschleunigung seit Jahrhunderten vorantreiben, dringt diese auch in immer mehr Lebensbereiche ein.
Die Technik ist bei Rosa nicht, wie es in vielen Internet-hassbüchern scheint, per se schlecht oder böse, wir alle lechzen ja nach ihr, um schneller von A nach B zu kommen, schneller zu produzieren als die Konkurrenz, noch schneller kommunizieren zu können und enger vernetzt zu sein. Sie ermöglicht uns, im permanenten Beschleunigungsspiel auf immer noch schnellere Levels zu kommen – mittlerweile freilich auf ein Tempo, das zu »organisatorischem Kammerflimmern« führt, wie Hartmut Rosa den rasenden Stillstand, die ameisenblinde Geschäftigkeit und hyperfrenetische Dynamik unserer Tage nennt.
Rosa zu lesen ist deshalb so wertvoll, weil er zeigt, dass uns nicht die immer bessere und schnellere Technik alleine in diese Atemlosigkeit zwingt. Mindestens genauso stark sind die Wettbewerbslogik – der Schnellste kriegt den Zuschlag, Zeit ist Geld, im nächsten Quartal müssen wir die Schlagzahl noch mal erhöhen – und dazu der Terror, den wir uns selber machen: Weil wir um unsere Endlichkeit wissen, versuchen wir permanent, uns möglichst viele Optionen offenzuhalten, um auch wirklich in das eine, viel zu kurze Leben alles reinzustopfen, was nur irgend geht. Aber was man auch tut, man tut im selben Moment zehn andere Dinge nicht, weshalb es permanent quälend im Hintergrund pocht: Warum habe ich noch nicht und eigentlich müsste ich. – Ganz genau: Warum habe ich Rosas Buch nicht schon früher gelesen, und eigentlich müsste ich den Mann unbedingt besuchen.
7. FEBRUAR
Auf der Fahrt nach Wuppertal sitzen nur vernetzte Menschen im Großraumabteil. Alle, ausnahmslos alle haben die Rechner an oder schauen auf ihre Smartphones. Ich denke zunächst, das kann ja wohl nicht sein und gehe zweimal durchs Abteil, um die Leute zu zählen, die schlafen, ein Buch lesen, zum Fenster rausschauen oder einer anderen Offline-Beschäftigung nachgehen. Ich finde keinen. Nicht einen einzigen. Okay, das Abteil ist recht schütter besetzt, wir sind vielleicht sechzehn Fahrgäste. Aber trotzdem. Ich setze mich wieder auf meinen Platz, schaue zum Fenster raus und denke, keiner von denen sieht jetzt, dass der Krähenschwarm auf den Starkstromleitungen vor Nürnberg gerade eine unbekannte Partitur bildet, die Strommasten als Taktstriche, die Vögel als Noten für meine Winterreise zu den Pleitegeiern.
Die Idee für mein Offlineexperiment kam mir erstmals auf einer Zugfahrt. Ich fuhr nach Hamburg, um dort den Inselbegabten Daniel Tammet zu treffen, ein autistisches Zahlen- und Sprachengenie, das Sprachen nicht zu lernen, sondern eher zu trinken scheint und für den jede Zahl eine bestimmte Form, Farbe und Größe hat. Da ich immer schnell Heimweh nach den Kindern bekomme, bin ich an ein und demselben Tag hin- und zurückgefahren, habe also elfeinhalb Stunden im Zug verbracht. »Du Armer«, sagten meine Kollegen, die das mitbekamen, »elf Stunden Zug, wie schrecklich.« Ich habe eifrig genickt, Mitleid nimmt man ja immer gerne mit. Aber heimlich dachte ich, ihr Armen, zehn Stunden Büro, wie schrecklich.
Im Gegensatz zu Flaubert, der ja schrieb, dass er in der Eisenbahn nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu heulen anfängt, kann ich im Zug hervorragend arbeiten. Es ist still, keiner ruft an, ich kann nicht ins Netz – vorausgesetzt ich habe meinen Blackberry nicht dabei. Außerdem läuft an der Peripherie des Blickfeldes permanent stilles Landschaftskino ohne Handlung, zersiedelte Räume, grünbraune Leere, die optische Version von Philip Glass, sehr beruhigend. Ab und zu torkle ich durch den schwankenden Gang, hole mir einen Kaffee und blättere danach in »Mobil«, diesem Magazin, mit dem ich auf jeder Zugfahrt einen stummen Krieg führe. Still und starr liegt es vor mir, anfangs denke ich immer, diesmal nicht, aber irgendwann blättere ich es dann doch durch, untergründig voller Wut, dass ich’s jetzt doch wieder tue. »Mobil«-Lesen ist wie schlechtes Onanieren.
Diesmal aber war es sehr interessant. Nicht das Heft
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