Ohne Netz
Zum einen hatte ich Angst, mit meiner Suchtdisposition mir noch eine zeitfressende Droge aufzuhalsen, eine Art schwarzes Loch, das man permanent füttern muss, ohne dass das den Sog je abschwächen, den Mangel je füllen würde. Zum anderen ist das der dreisteste Laden überhaupt, die raffen die Daten wie Kleptomanen, und wenn all die Netzeuphoriker 100-mal sagen, in unseren neuen Zeiten gebe es eben keine Privatsphäre mehr, aber das sei ganz großartig, dann antworte ich ihnen, sie mögen doch alle mal einen langen Spaziergang machen, auf dem sie garantiert niemanden treffen, vor dem sie die Rolle des progressiv nonkonformistischen Digital Native spielen müssen, und dann sollen sie in sich lauschen, da werden sie nämlich eine Stimme hören, die ihnen sagt: So schlecht ist das gar nicht mit der Privatsphäre.
Gleichzeitig verbiete ich hiermit allen Internetkritikern, mich in ihr Geschimpfe einzugemeinden, jedenfalls wenn es sich um dieses Exhibitionismusgeschimpfe handelt, das Gemäre darüber, dass das angeblich alles nur narzisstische Selbstdarsteller seien, die die Öffentlichkeit suchten. Denn genau diesen öffentlichen Aspekt vergessen die meisten, die da drin sind, ja oft. Die posten Fotos für ihren Freundeskreis und wundern sich, wenn das plötzlich wo ganz anders auftaucht. Facebook ist eine Art laut verlesenes Tagebuch. Oder sagen wir eine Telefonkonferenz mit den zehn besten Freunden. Gegen soziale Netzwerke per se zu wettern ist ungefähr so verbohrt, als würde man über Glasfaserkabel oder Faxgeräte schimpfen. Oder wie die Kulturkritiker, die um 1880 herum befürchteten, die allerorten neu entstehenden Postämter und die Unsitte, dass junge Mädchen neuerdings flächendeckend lesen und schreiben lernten, seien eine brandgefährliche Kombination, die jungen Frauen würden in Zukunft nämlich all ihre Zeit damit verbringen, ellenlange Liebesbriefe aufs Postamt zu tragen.
16. FEBRUAR
Manchmal ist da einfach dieser jähe Wunsch rumzugoogeln. Zu surfen. In diesem warmen Strom aus Mails zu stehen. Wie der Wunsch nach einem Kaugummi oder nach Zigaretten. Vielleicht sollte ich’s mal wie Franz Kafka machen und den Genuss einfach an jemand anderen delegieren: Als er schon schwer tuberkulosekrank war und kein kaltes Bier mehr trinken durfte, ging Kafka in Kierling ab und zu in ein Wirtshaus, zahlte irgendeinem Gast ein Bier, und schaute dem dann dabei zu, wie er das genussvoll austrank. Aber will ich wirklich jemand anderem dabei zusehen, wie er meine Mails liest?
17. FEBRUAR
Mein digitales Fasten kommt mir zuweilen so vor, als würde ich im reißenden Strom der Zeit hingebungsvoll eine winzige Langsamkeitsinsel aufschütten, die aber fortwährend von allen Seiten überspült wird: Ich schlinge mein Essen runter und lese währenddessen die Zeitung. Ich telefoniere mit einer Freundin und schreibe währenddessen weiter. Ich treffe einen Freund und schaue mehrfach auf die Uhr, weil ich heute ja noch dies und das tun sollte. Wollte. Sollte. Wollte. Schwer zu sagen, was da jeweils Zwang ist und was Muster. Und die unersättliche Wunschmaschine läuft ohnehin genauso weiter wie zuvor auch.
Ich dachte ja früher, dieses quälende Gefühl des Verpassens, des untergründigen Drucks, immer noch mehr in dieselbe Zeit pressen zu wollen, werde vom Netz verstärkt: Mehr Mails, Multitasking, Aufmerksamkeitszerstäubung. Inzwischen bin ich mir da nicht so sicher. Derselbe nervöse Mangel und Optionenterror plagte mich ja schon 1999, im südindischen Mettupalayam, wie ich heute in meinem Tagebuch von der damaligen Reise las: »14. April: Selbst hier, selbst in dieser verschnarchten indischen Kleinstadt, siebentausend Kilometer von München entfernt, hört die Wunschterrormaschine nicht auf. Ich bin wie zerheckselt von widersprüchlichen Impulsen und vermeintlichen Pflichten. Während ich die letzten zweieinhalb Seiten geschrieben habe, wollte ich Tee trinken gehen und Jörg anrufen, habe in unserem Indienführer die Trivial-Pursuit-Seiten zu Geschichte, Politik und Religion Südindiens gelesen, wollte aufspringen und in das indische Disneyland-Ressort fahren zwecks Recherche, hab nachgedacht, ob ich den Job bei Applaus annehmen soll oder wie das wäre, in Indien zu leben. Oder in Berlin. Oder, oder, oder, immer weiter.«
Herrschaftszeiten, kann denn hier nicht mal stramme Eindeutigkeit einkehren? Ich habe solche Sehnsucht nach klaren Verhältnissen. Dieses Entzugstagebuch dagegen pendelt argumentativ hin und her wie
Weitere Kostenlose Bücher